Die Welt scheint, politisch betrachtet, kopfzustehen. Der Rechtsruck in Europa, die Machtübernahme des Trumpismus in den USA, der weltweite Siegeszug des Autoritarismus, Kriege in geographischer oder emotionaler Nähe, fortgeführter Abbau des Sozialstaates, und all das angesichts der anhaltenden Klimakrise! Es geschieht da etwas Tiefreichendes und Nachhaltiges. Wir können uns indes nicht einmal auf den Begriff für die Lage einigen: Wende? Polykrise? Stadium des Kapitalismus? Ende des Anthropozän? Ein Umbruch ist es allemal.

Die meisten Erklärungsansätze fokussieren auf nur einen Aspekt und vernachlässigen weitere Ebenen dieser komplexen Veränderungen. Der Umbruch findet meines Erachtens in vier Dimensionen statt, aus denen jeweils eine Perspektive für seine Analyse abgeleitet werden kann.
Zunächst wäre da die historische Perspektive, die das „Ereignishafte“ in den Blick nimmt. Daraus wird sichtbar, dass die ab Mitte der 2010er Jahre immer autoritärer werdenden Regierungen eine Antwort der Macht darstellen. Es handelt sich um die Konsolidierung des Regierens in Folge von weltumspannenden Protesten auf den Sozialforen, vom sogenannten Arabischen Frühling, den Occupy- und den „Agora-Bewegungen“, entstanden auf den Plätzen Tahrir, Puerta del Sol, Syntagma, Bolotnaja, Majdan, Gezi etc. Diese antikapitalistischen und antiautoritären Widerstände, die ab den Nullerjahren in einer massiven Weise auftraten, wurden von der mit eiserner Hand gefestigten Herrschaft zurückgedrängt. Wir können hier vom Aufkommen eines Neo-Bonapartismus reden.
Die strukturelle Perspektive weist wiederum auf einen Wandel des Kapitalismus hin, der die erwähnte Konsolidierung als Neo-Plutokratie begleitet. Der freie Markt hat sich in den letzten 30 Jahren im Zuge der rasanten Digitalisierung nachgerade selbst abgeschafft. Der Monopolkapitalismus funktioniert nicht mehr als Hegemonie der multinationalen Konzerne, sondern zunehmend als Spielfeld einiger weniger Hightech-Oligarchen. Sie bestimmen nicht nur die Geschicke der Wirtschaft und den Lebensalltag der Bevölkerungen, sie drängen zudem immer mehr in die Politik. Der platonische Traum von der Philosophenherrschaft mündet in eine Unternehmerherrschaft.
Die dritte Dimension des Umbruchs umfasst die politischen Kämpfe. Wir konnten in den letzten Jahrzehnten beobachten, wie populistische Strategien die Politik durchdrungen haben: „Wir sind das Volk, sie eine entwurzelte Elite, die Fremde für die eigenen Interessen uns gegenüber bevorteilt.“ In diesem Modus wird der von einst tatsächlich Benachteiligten herbeigesehnte, allerdings längst befriedete Klassenkampf simuliert – in den Sprachbildern und der Logik des „Rassenkampfes“ sowie der „kulturellen Differenz“. Asyl und Migration werden neben der pandemischen Verwerfung und der Klimakrise in den Echokammern von Social Media zu Stichworten dieses Kampfes umfunktioniert. Politik wird, vereinfacht gesagt, zur Simulation.
Schließlich findet der Umbruch auch auf der Ebene der Adressat*innen statt. Die Filmtetralogie Matrix werden viele gesehen haben. Wenn man einmal von den ausgedehnten Prügelszenen absieht, hat der erste Teil des Streifens einen Plot, der zum Nachdenken anregt. Die Menschheit hat die Konkurrenz gegen die KI verloren, und Maschinen regieren die Welt. Da aber die Menschen als Gegenstrategie den Himmel verdunkelt hatten, wurden ihre Körper selbst zur Energiequelle für die Maschinen. In kokonartigen Schalen festgehalten und durch einen Schlauch beatmet sowie ernährt, werden Menschen als „Energie-Sklaven“ gehalten. Währenddessen sind ihre Gehirne an eine Computersimulation angeschlossen, die Matrix heißt und ihnen eine heile Welt vorgaukelt. Eine Handvoll „Entkoppelte“ leistet dagegen (und darin) Widerstand.
Wiewohl eher von postmodernen Theorien inspiriert, erinnert dieser philosophische Unterbau an die vulgärmarxistische These, dass die Arbeiterklasse in einer „Matrix“ des „falschen Bewusstseins“ verfangen sei und die eigenen Interessen nicht wahrnehmen könne. Das Gegengift zu solcher „Ideologie“ sei das Wissen, vermittelt durch den wissenschaftlichen Sozialismus. (Eine feinere Version des Gegengifts hieß in den 1960er Jahren „Ideologiekritik“.) Diese etwas krude Vorstellung kursiert heute erneut, bloß in anderen Begriffen wie Framing, Narrativ und Fake News, die allesamt darauf ausgerichtet seien, das Volk zu manipulieren. Dabei wurden die Social Media Anfang der Nullerjahre als kommunikative Revolution und als Vorboten der Wissensgesellschaft begrüßt: Sie würden den Adressat*innen des Politischen, dem Demos, als kritisches Mittel dienen, um aus ihrer ideologischen „Matrix“ auszubrechen. Wir sind derzeit leider Zeug*innen des Gegenteils.
Es wäre freilich auch denkbar, dass heute nicht die Welt kopfsteht, sondern wir – jene, die sich um diese Weltlage sorgen – durch die genannten Entwicklungen vom Kopf wieder auf die Füße gestellt wurden. Dass unsere Gewissheiten in Bezug auf die „westlichen Werte“, auf Demokratie, sicheren Frieden und Wohlfahrt sowie auf befreiendes Wissen womöglich nichts als langgediente Illusionen waren. Es ist jedenfalls nicht schlecht, daraus zu lernen, dass zur Gewissheit gewordenes Wissen seine kritische Kraft einbüßt.
Die Kolumne “Stimmlage” erscheint in der STIMME 134/2025
Chefredaktion: Gamze Ongan
Illustration: Fatih Aydoğdu
Hakan Gürses ist in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Von 1993 bis 2008 war er Chefredakteur der Zeitschrift Stimme von und für Minderheiten, von 1997 bis 2011 Lektor und Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien. Seine Kolumne “Stimmlage” erscheint regelmäßig in der STIMME.