Vielen Menschen geht es schlecht. Kriege, Klimakrise, Teuerung der Lebenshaltungskosten, der globale Rechtsruck, zunehmende Anzahl autoritärer Regierungen, islamistischer Terror, drohende neue Pandemien und weitere Dauerbrenner der letzten Jahre machen einem Gutteil der Bevölkerung große Sorgen … Viele wiederum nehmen Anstoß an medial aufgebauschten Reißern, seien es „Flüchtlingsströme“, Trans- und Intersexpersonen im Sport, sei es das „Gendern“ oder unpopuläre EU-Maßnahmen.
Als Draufgabe kommen die öffentlichen Debatten über solche Streitfragen hinzu, die polarisieren und spalten. Auch im alltäglichen Gespräch im privaten Umfeld. Es entstehen neue Verwerfungen, garniert mit Zwang: Du bist entweder dafür oder dagegen! Nicht bloß eine komplexe Antwort, sondern auch ein gemeinsam zu ermittelnder Pfad des gesunden Menschenverstands erweist sich derzeit als unmöglich. Das alles führt zur Angst vor der Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, zu einem Gefühl des Zukunftsverlustes und somit zur Endzeitstimmung.
Gab es ähnliche kollektive Gemütsverfassungen nicht auch zuvor? Um die Jahrtausendwende etwa, nach „Nine-Eleven“? Oder vorher, beispielsweise im Kalten Krieg, während der sogenannten Kuba-Krise? In den beiden Weltkriegen, in der Grippepandemie oder als der Halley’sche Komet Anfang des 20. Jahrhunderts wieder sichtbar wurde? Es gab den apokalyptisch betrübten Zukunftsblick wohl auch früher immer wieder.
Neu sind wohl die Verbreiterung des öffentlichen Raums und die Sozialen Medien. In den sogenannten Echokammern und Filterblasen kultivierte sich eine Synchronie des Aneinander-Vorbeiredens, und in den „Sturm im Glas“-Verbalgefechten erblicken diese Medien ihre wichtigste Nahrungsquelle. Die politische Devise „Teile und herrsche!“ haben die großen Plattformen wie Facebook nun umgedeutet in „Teile und verdiene!“. Je mehr Zank und Zerwürfnis, desto mehr Beteiligte mit mehr Online-Zeit im entsprechenden Medium!
Die Pro-contra-Verwerfung bildet seit jeher ein probates Mittel für die populistische Strategie, die Bevölkerung in zwei Gruppen aufzuspalten: Wir und die anderen, das Volk und die Eliten, Freund und Feind … Diese Nötigung hat eine Sogwirkung, vor der fast niemand gefeit ist.
Es wird zunehmend schwer, sich öffentlich zu einer Sachfrage zu äußern, ohne dabei dem Freund-Feind-Schema zu verfallen. Will man komplexe Themen ohne Vereinfachung verstehen, analysieren und diskutieren, statt sich in Parolen und abgedroschenen Binsenweisheiten zu ergehen, läuft man Gefahr, in der eigenen Blase zu einem Verräter, ja, zu einem Paria zu verkommen. Kann ich etwa in einem rassistisch strukturierten „Diskurs-Raum“ eine Position kundtun, ohne von rassistischen Diskursen und Parteien vereinnahmt und von den „Eigenen“ dafür getadelt zu werden?
Ich weiß, dass diese Frage insbesondere kritische Angehörige von Minderheiten beschäftigt. In den letzten Jahren ist das Problem akut geworden: Wenn Migrant*innen aus dem Nahen Osten oder der Türkei offen antisemitische Aussagen von sich geben, wenn bei Femiziden ein Großteil der Täter den sogenannten Migrationshintergrund hat, wenn Terroranschläge gegen die Bevölkerung vor allem islamistisch motiviert sind – was tun? In polarisierenden öffentlichen Debatten zu diesen Fällen gerate ich fast automatisch in eine Zwickmühle, die an den Double-bind-Effekt erinnert.
Dieser Begriff kommt aus der Psychologie und beschreibt die verzwickte Gemütslage, wenn man zwei einander widersprechende Botschaften bekommt. Doppelbindung kommt beispielsweise auf, wenn manche Aktivist*innen aus den islamischen „Communitys“ oder ihre wohlmeinenden „Allies“ einen islamistischen Terrorakt durch Formulierungen wie „Das ist nicht der wahre Islam!“ oder „Was ist mit dem rechten Terror der Neonazis?“ relativieren. Obendrein diskreditieren sie nahezu jegliche Kritik am Islamismus durch die Mehrheit (die „Weißen“) als „antimuslimischen Rassismus und Islamfeindlichkeit“ und engen den öffentlichen Diskussionsraum auf diese Weise erheblich ein.
Soll ich dazu schweigen, somit eine unpolitische Haltung einnehmen, oder Partei ergreifen und somit eine Vereinnahmung in Kauf nehmen – durch „Freunde“ oder durch „Feinde“? Bin ich nun meiner „Community“ (im Übrigen will ich zu diesem unmöglichen Begriff im deutschsprachigen Kontext bei Gelegenheit ein paar Worte verlieren) verpflichtet oder der Demokratie, den Menschenrechten und dem Gemeinwohl?
Im Zeitalter der gestärkten Kollektividentitäten, der Auferstehung des Kommunitarismus entlang der Strömungen von Dekolonialismus und Critical Race Theory sowie der flankierenden Social-Media-Filterblasen entsteht der Druck der Doppelbindung immer öfter und heftiger. Kann es sein, dass wir etwas ausbaden müssen, das wir nicht selbst verschulden? Dass nämlich die Doppelbindung durch den Doppelstandard verursacht wird, den manche minoritären Aktivist*innen öfter anwenden, wenn es um ihre eigenen Anliegen geht?
Die Kolumne “Stimmlage” erschien in der STIMME 132/2024
Chefredaktion: Gamze Ongan
Illustration: Fatih Aydoğdu
Hakan Gürses ist in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Von 1993 bis 2008 war er Chefredakteur der Zeitschrift Stimme von und für Minderheiten, von 1997 bis 2011 Lektor und Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien. Seine Kolumne “Stimmlage” erscheint regelmäßig in der STIMME.