Auf Instagram und Facebook gibt es diese Möglichkeit, Videoschnipsel und Fotos aneinanderzureihen und wie einen Kurzfilm der Gefolgschaft zu präsentieren. Obwohl das Tool „Story“ heißt, hatte es eher nur in seinen Anfängen mit Erzählen zu tun. Die Ur-Storys klangen, in die Verbalsprache übertragen, wie die Geschichten des Tages (das Ding verschwindet ja in 24 Stunden): „Heute Vormittag habe ich mir einen Hoodie gekauft, zu Mittag einen besonders schmackhaften Veggie-Burger mit Avocados gegessen, den Abend mit friends auf einer nicen Party abgetanzt und dabei zu ‚Shape‘ von Ed Sheeran ein Glas Wodka-Energy geschlürft.“

Allmählich verkam das Format jedoch zur Wochenschau. Globale Nachrichten fingen an, mit Event-Ankündigungen, Lieblingskleidungswerbung und Haltungsäußerung auf Bildern eine seltsame Syntax zu bilden. Die Story einer „Social-Media-Freundin“ vom vergangenen Sommer als Beispiel:
„Waldbrände in Griechenland!“ Im Video: roter Himmel und dunkler Wald. – „Ozzy gestorben.“ Tränen fließen aus dem Schriftzug; der Sänger blickt freundlich in die Kamera, unten ist zu lesen: Ozzy Osbourne 1948 – ∞, im Hintergrund läuft „Dreamer“. – Aufeinanderfolgende Bilder der nackten Füße der Posterin, die irgendwo am Mittelmeer zu liegen scheint. „L‘Italiano“ von Toto Cutugno im Hintergrund. – „Thailand und Kambodscha im Krieg!“ Im Video sind Panzer zu sehen; Musik: „Imagine“. – Meme: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Hermann Hesse.“ Schneeflocken als Hintergrund. – Video: Ein beleibter Mann trinkt aus einem riesigen Kanister. Darüber steht: “Me drinking coffee like every morning. Smiley, Smiley. Lol.“ – „Stoppt den Genozid in Gaza!“ Video zeigt Landkarte des Nahen Ostens mit vielen Richtungspfeilen und farbigen Rastern. – „Die 10 besten Filme, die du gesehen haben musst!“ Link zu einem Facebook-Reel.
Was will die Story? Die Nachrichten darin sind bereits bekannt, die Event-Ankündigungen stehen auch überall im Netz zu lesen; übermäßiger Kaffeekonsum ist ohnehin weit verbreitet und keine Sensation; Hesse-Sprüche sind im Internet Meterware, und Tipps zu älteren Filmen vergisst man schon beim Lesen.
Der Philosoph Michel Foucault hat den (ursprünglich medizinischen) Terminus „Heterotopie“ geprägt – zuerst in seinem Buch Die Ordnung der Dinge, das mit dem Zitat einer eigenwilligen Klassifikation von Tieren beginnt: Da stehen Tiere, „die sich wie Tolle gebärden“, neben Tieren, „die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind“. Der Philosoph fragt: „Wo könnten sie nebeneinandertreten, außer in der Ortlosigkeit der Sprache?“
Über Heterotopie (Foucault hat übrigens deren Bedeutung später ziemlich modifiziert) wurde einiges geschrieben. Ich will diesen „Gegen-Ort“-Begriff nicht weiter thematisieren, sondern mir nur die Frage Foucaults ausborgen: Wo könnten diese verschiedenen Bilder, Themen, Aussage-Kategorien, Musikstücke, sprachlichen, räumlichen oder zeitlichen Bezüge nebeneinandertreten – außer in den Social Media?
Nicht allein die Storys stellen den Ort für die Nachbarschaft von einander fremden, heterogenen Dingen bereit. Die Online-Plattformen basieren überhaupt auf dem zunächst bezugslosen Nebeneinander des Verschiedenartigen. Die Social Media bilden insofern eine Heterotopie, als sie das Zusammentreffen von unterschiedlichsten Themen und Menschen ermöglichen. Diese Medien sind aber dennoch keineswegs „sozial“. Ihr Sinnbild ist nicht der Platz, auf dem Menschen an einem Samstag zusammenkommen, um gemeinsam gegen eine Sache zu protestieren. Das Weltbild eint dabei die Anwesenden, und sie bilden in ihrem Auftreten ein Kollektiv.
Nicht so in den Social Media. Da rotten sich zwar auch Menschen zusammen. Aber ihr Auftreten findet nicht kollektiv statt, auch nicht zeitgleich. Die Gruppe und ihre Äußerungen sind asynchron; die Synchronie wird erst durch das Medium (und dessen Algorithmus) hergestellt.
Mag sein, dass die ursprüngliche Idee vom „Web 2.0“ und den (damals so genannten) „Social Software“, durch den offenen Quellcode (Open Source) elektronische Medien zu kollektivieren und entkommerzialisieren, eine konkrete Utopie darstellte. Auch die politisch wichtige Funktion vor allem von Twitter, die rasche Organisation und Verbreitung von spontanen politischen Aktionen zu ermöglichen, war wohl ein Instrument gegen (neoliberal motivierte) Autoritarismen in den 2010er Jahren.
Die einzig gültige Währung auf den großen Plattformen ist aber mittlerweile das neoliberale Gebot der Selbstoptimierung. Sogar Internet-Blasen und Echo-Räume sind (wiewohl von Betreibern erwünscht) eigentlich Nebenprodukte davon. Die Kernaussage von Social Media lautet: Du bist Du, und es geht nur darum. Auch wenn das halbe Internet eh die gleichen Meinungen, Tendenzen, den Film- und Musikgeschmack, ja, den Urlaubsort mit Dir teilt – Du bist einzigartig. Das musst Du nur täglich unter Beweis stellen, indem Du Dich „äußerst“: durch die Memes, durch die Videoclips, durch deren merkwürdige Nachbarschaft in Deinen Storys und auf Deinem Facebook-Feed.
In der Heterotopie der Social Media liegt der alltägliche „15-Minuten-Ruhm“ von „jedermann“. Die antisemitische Aussage, die nackten Füße am Mittelmeer oder die Ozzy-Liebe sind dabei nichts weiter als Stufen einer Treppe, die nebeneinander liegen.
Die Kolumne “Stimmlage” erscheint in der STIMME 136/2025
Chefredaktion: Gamze Ongan
Illustration: Fatih Aydoğdu
Hakan Gürses ist in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Von 1993 bis 2008 war er Chefredakteur der Zeitschrift Stimme von und für Minderheiten, von 1997 bis 2011 Lektor und Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien. Seine Kolumne “Stimmlage” erscheint regelmäßig in der STIMME.