Leid und Mitleid

Ludwig Wittgenstein setzte einen der schönsten philosophischen Sätze an den Anfang seines Traktats: Die Welt ist alles, was der Fall ist. Diese inzwischen nachgerade zum Aphorismus gereifte Formulierung will ich mich erdreisten, hier in politischer Absicht zu erweitern: Wenn sich einzelne Fälle verdichten, treten große Sinnfragen auf. (Jedenfalls für mich.)

Täglich konfrontieren uns die Medien mit Zahlen von Getöteten auf verschiedenen Kriegsschauplätzen, zumal auf jenen, die wir als nahe empfinden. Wir bekommen dazu immer mehr Berichte über Autokraten, die ihre Mitbürger*innen verfolgen, quälen, einsperren oder vernichten, während sie durch Drohgebärden auch ihre Bereitschaft zum Krieg signalisieren.  Nicht wenige vergleichen darum unsere Zeit mit den 1930ern, und viele deuten weitere Ausbrüche von Gewalt als Bestandteil kriegerischer Gefahr, seien es gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen sogenannten migrantischen Communitys oder Femizide.

Die wohl etwas naive Sinnfrage also, die sich dieser Tage aus der Verdichtung von Gewaltbildern (jedenfalls für mich) ergibt, lautet: Wieso können wir Menschen trotz unserer kulturellen Hervorbringungen, unserer ethischen Standards und angesichts der schlimmsten Erfahrungen jüngerer Geschichte anderen Menschen noch immer solch unermessliches Leid zufügen?

(Zeit-)Historische Beispiele reichen von Sklaverei und kolonialistischen Gräueltaten über Shoah bis hin zu Folterkammern in Diktaturen und zeigen uns vor allem, dass es systematische Gewalt von Menschen an Menschen gibt – trotz aller zivilisatorischen Fortschritte. Über die Gründe und das Wie dieser ungebrochenen Gewalt geben sie uns indes kaum Auskunft. Ebenso wenig über das Gegengift: Erziehung? Strengere Gesetze? Stärkeres Eingreifen von internationalen Kräften?

Es gibt freilich schon Erklärungsansätze. Der US-amerikanische Philosoph Richard Rorty etwa führt die Bereitschaft bewusster und systematischer Verletzung der Menschenrechte auf drei Formen von Unterscheidung mitsamt Grenzziehungen zurück. Demnach unterscheiden die Täter ihre Opfer vom Menschsein und betrachten sie als Tiere. Oder sie unterscheiden zwischen Erwachsenen und Kindern, wobei sie ihre Opfer als zu erziehende Kinder ansehen. Die dritte Unterscheidung wiederum betrifft Mann und Frau, und Frausein gilt in dieser Optik nicht als Menschsein.

Rorty meint, rationale Begründungen, um das Menschsein auch für jene geltend zu machen, die bisher als Andere gequält wurden, würden nicht greifen. Es gehe vielmehr um eine „korrigierte Sympathie“ oder (um mit der neuseeländischen Philosophin Annette Baier zu reden) um einen „Fortschritt der Gefühle“ – also um eine Art von éducation sentimentale, eine Herzensbildung.

Können das elterliche Zuhause und die Schule neben Vermittlung von Wissen sowie Verhaltensnormen auch die Herzen junger Menschen „bilden“, sodass sie keine diskriminierenden Grenzen zwischen sich und den Anderen ziehen? Sind Menschenrechtsbildung und politische Bildung schließlich Herzensbildung? Wie sieht es wiederum mit der Bildung von Erwachsenen aus?

Dieser Fragenkomplex zieht eine weitere Frage nach sich, nämlich jene nach „Inhalt“ der Herzensbildung – insbesondere nach dem, der (in einem bestimmten Sinne des Wortes) Ideologie genannt wird. Diese ist das Fundament einer Gefühlserziehung, die in den Einrichtungen unserer Gesellschaft bereits durchweg stattfindet.

Zwei wesentliche Ideologien werden in der politischen Theorie als die seit jeher stärksten genannt: Religion und Nationalismus. Historisch gesehen habe der Nationalismus, so die politische Theorie, die Religion abgelöst, allerdings nicht zur Gänze, sodass ihre Auseinandersetzung in Gestalt von „Tradition versus Moderne“ einen immer noch wirksamen Gegensatz bilde.

Obwohl wir in einer angeblich säkularen und post-nationalen Zeit lebten, wie die Theorie befindet, hat bis jetzt keine andere Ideologie, weder Kosmopolitismus noch Internationalismus oder Atheismus, diesen Gegensatz aufheben können. Was wir heute erleben, ist sogar vielmehr eine Synthese von Nationalismus und Religion, die vor allem im Autoritarismus ihren Ausdruck findet: Von Putin über Orbán bis hin zu Erdoğan machen autoritäre Führerfiguren gerne Gebrauch von einem nationalistisch-religiösen Gemisch, dessen Mixtur sie je nach Lage und Zielgruppe anpassen.

Warum wirkt die Mixtur ungebrochen? Die Antwort ist wohl genauso einfach wie komplex: Weil diese Ideologien die Grundlage der gegenwärtigen „Herzensbildung“ in der Schule und in anderen Einrichtungen ausmachen. Wir leben in Nationalstaaten, haben Nationalökonomien, lernen in der Schule Geschichte und Geografie nach nationalen Gesichtspunkten.

Wir haben immer noch Staatsreligionen, Kirchen, Glaubensgemeinschaften; Kommunion, Kreuz oder Kopftuch gehören zu unserem Alltag als einende oder trennende Traditionen. Wir lernen, nur jene zu lieben, die uns angeblich am nächsten sind: Angehörige unserer Nation und Gläubige unserer Religion. Wir lernen es, so zwischen Menschen zu unterscheiden, dass den Anderen Leid zu bereiten gegenüber dem Mitleid für sie überwiegt.

Welcher „Inhalt“ wäre heute imstande, die Herzensbildung von Gewalt und Krieg zu befreien?


Die Kolumne “Stimmlage” erscheint in der STIMME 135/2025

Chefredaktion: Gamze Ongan

Illustration: Fatih Aydoğdu

Hakan Gürses ist in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Von 1993 bis 2008 war er Chefredakteur der Zeitschrift Stimme von und für Minderheiten, von 1997 bis 2011 Lektor und Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien. Seine Kolumne “Stimmlage” erscheint regelmäßig in der STIMME