Es gehört inzwischen zum guten Ton in den politischen Analysen von Wahlen, welche rechtspopulistische oder faschistoide Parteien für sich entschieden haben, die Linke dafür verantwortlich zu machen. Mal ist es die Sozialdemokratie, die in ihrer wohligen Echokammer die Angst der Leute vor Zuwanderung nicht wahrnehme. Mal die „Kulturlinken“, deren abgehobene Sprache und Arbeiten bei „einfachen“ Bürger*innen nur Kopfschütteln auslöse. Oder die „Woken“, die Transfrauen im Frauensport zulassen wollten. Nach der US-Präsidentschaftswahl wurde „Wokeness“ in vielen Kommentaren sogar als Hauptfaktor beim Sieg von Trump hervorgehoben.[1] Ich halte diese Annahmen nur teilweise für richtig.

Wenn wir uns den Erfolg der faschistoid-rechten Parteien und Politiker*innen näher ansehen, sieht die Sache ohnehin differenzierter aus. In den USA waren nicht die „Woken“ selbst an Trumps Wiederwahl (mit)schuld. Wie auch einige Politik-Kommentator*innen betonen, haben erst Trump und sein Team die „Woken“ und den „Wokeness“ als Gefahr für die bestehende Ordnung und Moral hochstilisiert. Hätte es aber die mediale und akademische Woke-Debatte nicht gegeben, wäre ebenso gut ein anderes Feindbild dran. Bei seiner ersten Wahl beispielsweise hatte Trump eher mit „Amerika zuerst!“ gepunktet.
Den europäischen Rechtspopulist*innen sind wiederum Migration und Flucht ein Dauerbrenner unter Angstthemen. Aber bei der jüngsten Nationalratswahl in Österreich hat die Corona-Impfung eine nahezu genauso wichtige Rolle gespielt. Gäbe es all diese Feindbilder und Zielscheiben nicht, würde die faschistoide Vernunft sowieso jederzeit ein anderes Schreckgespenst finden.
Vor lauter Kritik an der linken oder liberaldemokratischen Gegenseite dürfen die strukturellen Gründe des globalen Rechtsrucks nicht übersehen werden. Die Folgen der sogenannten Finanzkrise 2008 sind noch immer präsent. „Heiße“ Kriege und die damit verbundene Weiterführung des Kalten Krieges sind beunruhigend. Fluchtbewegungen lösen als direkte Folge der „Polykrise“ Verunsicherung aus. Die Corona-Pandemie hat die Verletzlichkeit des gesellschaftlichen Systems aufgezeigt. Digitalisierung eröffnete zwar neue Arenen für breitere Bevölkerungsgruppen; sie bewirkt aber zugleich Arbeitslosigkeit und eine neue soziale Schere …
Diese (ohnehin unvollständige) Liste dient den faschistoiden Kräften wie ein Selbstbedienungsregal. Da für ihre Propaganda keine logische Konsistenz notwendig ist, entnehmen sie dem Regal ihre wechselnden Feindbilder. Das kann keine linke oder liberaldemokratisch gesinnte Partei ohne Selbstleugnung. Zudem geschehen politische Wechsel, wie uns Langzeitbeobachtungen lehren, in Megatrend-Perioden. Und der krisenanfällige Kapitalismus erzeugt regelmäßig rechtsruckartige Megatrends.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich finde die sozialdemokratische Toskana-Fraktion ebenso abstoßend wie so manche öffentliche Guerilla-Inszenierung „linker“ Kulturmacher*innen in lächerlichen Schneemasken oder den identitätspolitisch gefärbten Post-Neusprech der „Allys“. Die Frage nach den Fehltritten der Linken muss aber nicht als Erklärung für die Stärke der Rechten dienen, sondern zur Korrektur linker Gesellschaftskritik aufgeworfen und diskutiert werden.
Schließlich frage ich mich: Wie sehen die Kommentator*innen, die auf die Mängel der linken Politik hinweisen, sich selber? Als Linke, also handelt es sich um eine Selbstkritik? Oder als „objektive“ Demokrat*innen, die das Geschehen aus der Höhe „beobachten“? Ich bezweifle, dass es auf der politischen Landkarte eine solche Anhöhe gibt.
[1] Da es eine elaborierte Argumentation enthält, erwähne ich hier nur den Artikel vom australischen Bioethiker Peter Singer („Was Progressive von Trump lernen“, in: Die Presse, 23. November 2024, S. 32–33) als stellvertretend für ähnliche Kommentare.
Die Kolumne “Stimmlage” erschien in der STIMME 133/2024
Chefredaktion: Gamze Ongan
Illustration: Fatih Aydoğdu
Hakan Gürses ist in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Von 1993 bis 2008 war er Chefredakteur der Zeitschrift Stimme von und für Minderheiten, von 1997 bis 2011 Lektor und Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien. Seine Kolumne “Stimmlage” erscheint regelmäßig in der STIMME.