Ein Schreibheft mit braunem Umschlagpapier. Brüchig an den Rändern. Man merkt auf den ersten Blick: Das Heft hat Geschichte. Auf den Innenseiten finden sich Tabellen und Notizen in türkischer Sprache. Sie dokumentieren Gülseren Ağcas Ausbildung zur Buchhalterin im Istanbul der frühen 1980er Jahre.
Gülseren Ağca hat das Heft mit ihrer Mitschrift zur Buchhaltung mit nach Österreich genommen, begleitet von der Hoffnung, auch hier in ihrem erlernten Beruf tätig zu werden. Ihre Hoffnungen sollten sich letztlich nie erfüllen. Vom österreichischen Arbeitsmarktservice wurden ihr Jobs als Reinigungskraft angeboten. Das Heft hat Frau Ağca dennoch bis heute aufgehoben. Für sie ist es Ausdruck ihrer Hoffnungen und Erwartungen, aber auch der Enttäuschungen ob der vorgefundenen Lebensrealität in Österreich.
Gülseren Ağcas Schreibheft ist nur ein Beispiel von vielen, zunächst profan erscheinenden Alltagsobjekten, die bei näherer Betrachtung bzw. in Verknüpfung mit persönlichen Erinnerungen nicht nur individuelle Migrationsbiografien, sondern auch Facetten der Migrationsgeschichte dokumentieren – in diesem Fall jene der strukturellen Diskriminierung durch Dequalifizierung am Arbeitsmarkt. In Österreich sind davon insbesondere Migrant_innen aus Drittstaaten betroffen, die oft Tätigkeiten deutlich unter ihrem Ausbildungsniveau ausüben müssen.
Erinnerungen an eine andere Form der Rückstufung und Diskriminierung verbindet Slobodanka Kudlaček-Ritopečki mit einer Zeichnung, die ihr im Jahr 1973 von Milorad, einem ehemaligen Schüler, überreicht wurde. Auf der Zeichnung ist sie mit dem kleinen Jungen an der Hand porträtiert. Kudlaček-Ritopečki unterrichtete zum damaligen Zeitpunkt viermal wöchentlich Kinder jugoslawischer Arbeitsmigrant_innen: Sie half ihnen bei den Deutschaufgaben und unterrichtete sie in ihrer Erstsprache sowie in Geschichte und Geographie Jugoslawiens. Der Unterricht fand in einer Volksschule im 20. Wiener Gemeindebezirk statt und wurde vom Verein Jedinstvo organisiert. Als der Schüler Milorad seiner Lehrerin die Zeichnung überreichte, stand bereits fest, dass er in die Sonderschule versetzt wurde. Viele andere Kinder jugoslawischer und türkischer Herkunft teilten in den 1970er und 1980er Jahre sein Schicksal, in den meisten Fällen reichten schlechte Deutschkenntnisse oder Legasthenie für eine Einweisung in die Sonderschule. So auch im Fall von Milorad, wie ein ihm gewidmetes Gedicht seiner ehemaligen Lehrerin festhält. Zeichnung und Gedicht hat Slobodanka Kudlaček-Ritopečki bis heute aufgehoben.
Einschreibungen
Wie das Heft von Frau Ağca oder die Kinderzeichnung von Frau Kudlaček-Ritopečki zeigen, erzählen viele Objekte, die im Zuge des Projektes „Migration Sammeln“ aufgefunden wurden, erst bei näherer Betrachtung bzw. durch die mit ihnen verknüpften persönlichen Erinnerungen Migrationsgeschichte. Andere wiederum sprechen für sich. So etwa das Tagebuch von Zdravko Spajić, das er 1974 auf Serbokroatisch führte. Am Samstag, dem 2. Juni 1974 steht etwa resümierend: „Nichts Aufregendes, nur dass wir baden gegangen sind. Es ist verwunderlich, wie wenig die Österreicher baden gehen. Wir zwei waren alleine im Schwimmbad“. Biografisch gesehen stellt das Jahr 1974 einen bedeutenden Wendepunkt in Zdravko Spajić Leben dar: Nach vier Jahren bei der Firma Alemania (Semperit) – seiner ersten Arbeitsstelle in Österreich – nimmt Spajić eine Stelle als Dolmetscher für die serbokroatische Sprache beim Österreichischen Gewerkschaftsbund an. Seine Eintragungen dokumentieren nicht nur seine Aufgaben beim ÖGB, zu denen auch das Werben um neue Mitglieder zählte, sondern auch die Herausforderungen, die in der Anfangszeit etwa auch darin bestanden, dass jugoslawische Arbeitnehmer_innen das Übersetzungs- bzw. Beratungsangebot überhaupt wahrnahmen. Spannend sind aber auch Spajićs Schilderungen zur jugoslawischen Vereinsszene in Wien: Orte und Treffpunkte werden genannt, Aktivitäten und Streitereien im Vereinsklub beschrieben, aber auch kulturgeschichtlich interessante Beobachtungen festgehalten: „Im Klub [Mladost, Anm. der Verf.] wie immer, nur werden diese Leute immer moderner, jeder zweite hat bereits ein Auto […]“. Welchen historischen Wert Spajićs Tagebuch – es ist sein erstes und einziges – einmal haben sollte, konnte er selbst zum damaligen Zeitpunkt nicht erahnen.
Auch Vasilija Stegić konnte nicht wissen, dass ein Kochtopf, den sie eine Woche nach ihrer Ankunft in Wien von ihrem ersten Lohn erworben hat, Stoff für die Musealisierung bieten würde. Frau Stegić beließ es nicht dabei, diesen Topf, der zum Zeitpunkt unserer Recherchen in ihrer Ferienwohnung in Rijeka im Einsatz war, einfach zu übergeben. Sie fügte dem Topf eine zusätzliche Bedeutung hinzu, indem sie darauf mit einem wasserfesten Stift den Zeitpunkt des Erwerbs Siječanj 1973 [Dt.: Jänner 1973] vermerkte. Insofern dokumentiert der Topf auch individuelle Reaktionen auf den Sammelprozess, die im Fall von Vasilija Stegić in der Herstellung eines weiteren Objektes mündeten.
Vor und hinter der Kamera
Ein Mann mit Anzug und Krawatte steht in einem Zimmer. Das Zimmer wirkt klein und dunkel, es ist lediglich mit ein paar einfachen Möbeln ausgestattet. Kleidungsstücke wurden behelfsmäßig an die Wand gehängt. Die Kleidung des Abgebildeten stellt einen deutlichen Kontrast zur tristen Umgebung dar. Der Mann auf dem Foto ist Cahit Çakır, der 1969 über die österreichische Anwerbestelle in Istanbul nach Österreich kam und in der Baubranche tätig war, zunächst in Vorarlberg, später in Wien. Das Foto zeigt ihn 1973 in einer von der Firma zur Verfügung gestellten Unterkunft am Wildpretmarkt im Ersten Wiener Gemeindebezirk. Es ist eine jener typischen Massenunterkünfte für Migrant_innen, die ab den 1970er Jahren immer wieder Gegenstand von Skandalisierungen in den Medien sind: von schlechter Wohnqualität und ohne Privatsphäre. Cahit Çakır war es scheinbar wichtig, sich trotz der tristen Umgebung würdevoll zu präsentieren.
Private Fotografien – von Zu Hause nach Österreich mitgenommen oder per Post geschickt oder in der neuen Umgebung angefertigt – stellten ein transnationales Kommunikationsmittel zwischen Migrant_innen und ihren zurückgebliebenen Familienangehörigen dar. Gleichzeitig bilden sie aber auch ein bedeutendes Erinnerungsmedium. Selbstinszenierung vor touristischen Attraktionen wie dem Schloss Schönbrunn oder dem Prater finden sich unten den privaten Fotobeständen genauso oft wie Aufnahmen aus den eigenen vier Wänden (der Wohnung, dem Wohnheim), der Arbeitswelt oder dem Verein. All diesen Fotografien ist gemein, dass sie selbstgewählte, selbstbewusste und würdevolle Inszenierungen dokumentieren und dadurch eine Vielfalt an Lebensrealitäten abbilden. Sie stellen damit auch einen wichtigen Kontrapunkt zur Pressefotografie über Arbeitsmigration dar, die Migrant_innen zumeist als anonymisierte Gruppe an verschiedenen Orten im öffentlichen Raum porträtiert und das visuelle Gedächtnis über Arbeitsmigration maßgeblich geprägt hat.
Einen visuellen Gegenentwurf zur gängigen Pressefotografie stellen auch jene Aufnahmen dar, die der Fotograf Jovan Ritopečki (1923-1989) von den vielfältigen Aktivitäten der jugoslawischen Community in Wien und bundesweit angefertigt hat. Seine Schwarz-Weiß-Fotos hängen noch heute an den Wänden einzelner Vereine – wie etwa an jenen von Jedinstvo im Zweiten Wiener Gemeindebezirk, wo Ritopečki die Informationsabteilung leitete. Sie zirkulieren aber auch in vielen privaten Haushalten. Aufbewahrt von Personen, die von Ritopečki bei diversen Sport- und Kulturveranstaltungen porträtiert wurden. Ritopečkis fotografischen Blick zeichnet aus, dass er den Porträtierten auf Augenhöhe begegnete, sie nicht zu Objekten degradierte, sondern in Interaktion mit ihnen trat. Mit kritischem, emphatischen Blick dokumentierte er auch die Lebensverhältnisse seiner Landsleute in Österreich und hielt Diskriminierungen mit seiner Kamera fest. Das zeigt etwa eine Aufnahme von der Eingangstür zu einem Lokal, auf der folgende Botschaft auf Serbokroatisch und Deutsch angebracht wurde: „Für jugoslavische Gastarbeiter ist ab dem 29.II.1970 der Eintritt verboten!“
Vielen Dank für den Hinweis, ist aktualisiert!
Liebe Grüße, Gamze Ongan
Liebes Grafikteam des Blogs der Initiative Minderheiten!
Lasst euch bitte was einfallen und verwendet vielleicht eine andere Schrift, damit die Sonderzeichen der Namen und Familiennamen in den Credits angezeigt werden!!!
Danke und LG E.M.