Aus Ex-Jugoslawien nach Wien: Die Geschichten von Geflüchteten. Erinnerungen und Neuanfang von Menschen, die in den 90er-Jahren vor dem Bosnienkrieg flüchteten

„Alle Dinge, die ich besaß, bedeuten allein mir etwas und niemanden sonst, denn diesem meinem Gepäck und Krimskrams verleihen allein mein Stempel und meine Existenz einen Sinn.“ (Mile Stojić, 2013:57)

Auf den ersten Blick erinnert der kleine, gelbe Zettel an ein Post-it, wie man es für kurze Notizen verwendet. Darauf findet sich eine Liste an Dingen, verfasst in serbokroatischer Sprache: „Filme, Videokassetten, Musikkassetten Asja, Transistor und Adapter, Batterieladegerät, Eigentumsbestätigung des Hauses in Sarajevo, Eigentumsbestätigung für Sakar, Fotoalben, Kinderschmuck, Radas Diplome“. Alle angeführten Punkte wurden nachträglich abgehakt. Von Radmila Erceg in Zvornik, im Nordosten Bosniens, im Jahr 1992. Ihr damaliger Mann Sead Hadžinurbegović hatte diese Liste im Krieg aufgesetzt. Frau Erceg zeigte mir das Blatt, während sie von ihrer Flucht aus Bosnien erzählt.

Rettende Flucht

Als Radmila Ercegs Stadt Zvornik im Frühjahr 1992 von serbischen Einheiten eingenommen wurde, wurde die muslimisch Bevölkerung aus der Stadt und den angrenzenden Dörfern vertrieben oder getötet. Auch Ercegs Familie musste ihr Zuhause verlassen. Radmilas Mann hatte einen muslimischen Familienhintergrund, sie selbst einen serbisch-orthodoxen. Ihre Ehe durchkreuzte die ethnischen Reinheitsfantasien der nationalistischen Kriegstreibenden. Erceg unterstützte zunächst ihren Mann und die ältere Tochter bei der Flucht nach Serbien, bevor sie mit ihrer jüngeren Tochter ein paar Wochen später folgte und die Familie bei Freundinnen und Freunden in Novi Sad Zuflucht fand. Serbien war neben Kroatien ein wichtiges Transitland für viele Kriegsvertriebene aus Bosnien.

Kurze Zeit nach ihrer Flucht kehrte Radmila Erceg unter lebensgefährlichen Bedingungen nach Zvornik zurück, um ihre Schwiegermutter und Schwägerin bei der Flucht zu unterstützen. Sie hoffte, dass ihre serbisch-orthodoxe Herkunft Schutz bieten würde. Außerdem wollte sie ein paar Dinge aus dem verlassenen Haus mitnehmen. Ihr Mann Sead hatte ihr den gelben Zettel mitgegeben. Nicht vergessen werden sollten neben praktischen Dingen und wichtigen Dokumenten auch die Erinnerungsobjekte: die Familienalben und -filme, die Stimme der jüngsten Tochter Asja aufgenommen auf Band oder der Kinderschmuck. Aus Angst vor einer Abnahme versteckte Erceg diese sorgfältig im Gepäck, bevor sie die militärischen Kontrollpunkte passierte.

Die Familie hatte Glück im Unglück und konnte ein paar Erinnerungstücke retten. „Sie zeigen dir, dass du früher gelebt hast“, erzählt Radmila Erceg. Im April 1993 war sie mit ihrer Familie schließlich von Serbien weiter nach Wien geflüchtet. Sie zählten zu jenen rund 100.000 Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die zu Beginn der 1990er-Jahre in Österreich Aufnahme fanden. Die größte Gruppe bildeten 85.000 Schutzsuchende aus Bosnien und Herzegowina.

Das nackte Leben und ein paar Familienfotos

Vor dem Hintergrund von Krieg, Vertreibung und Flucht stellt der Besitz von privaten Erinnerungsobjekten, die an ein Leben davor erinnern, für Geflüchtete keine Selbstverständlichkeit dar. Darauf verweist auch der vielzitierte Satz der Schriftstellerin Dubravka Ugrešić, wonach es „zwei Sorten Flüchtlinge [gibt]: solche mit und solche ohne Fotos“. Der Besitz oder Nicht-Besitz von Fotografien entscheide, so Ugrešić, über das Recht auf und die Möglichkeit der Erinnerung. Zur Veranschaulichung ihres Arguments gibt die Autorin eine Anekdote wider, die über den ehemaligen serbisch-bosnischen General und Kriegsverbrecher Ratko Mladić kursierte.

Mladić soll einen Bekannten in Sarajevo vor dem Angriff auf sein Haus mit dem folgenden Inhalt gewarnt haben: „Der General [teilte] dem Bekannten telefonisch mit […], er gebe ihm fünf Minuten Zeit, um die Alben einzupacken, denn er werde sein Haus in die Luft jagen. Der Mörder dachte dabei an die Alben mit den Familienfotos. Der General, der systematisch an der Zerstörung der Stadt arbeitete, wußte genau, daß er die ERINNERUNG zerstören wollte. Seinem Bekannten schenkte er ‚großzügig‘ das Leben mit dem Recht auf Erinnerung. Das nackte Leben und ein paar Familienfotos.“

Ugrešić Zitat verdeutlicht, wie die Auslöschung der Erinnerung – der kollektiven als auch der individuellen – im vier Jahre andauernden Bosnienkrieg als bewusste Kriegsstrategie eingesetzt wurde. Sie war Teil der Politik der sogenannten „ethnischen Säuberungen“, die nicht nur die systematische Ermordung und Vertreibung unerwünschter – als ethnisch Anders definierter – Bevölkerungsgruppen zur Folge hatte, sondern sich auch gegen kollektive Erinnerungen, Identitäten und Lebenswelten richtete.

Davon zeugt das große Ausmaß an zerstörtem Kulturgut, das einst das jahrhundertealte multiethnische Erbe Bosnien-Herzegowinas dokumentierte. Davon zeugen aber auch die Erzählungen von Geflüchteten, die alles zurücklassen mussten und deren Häuser eingenommen oder bewusst zerstört wurden. Wenn es ihnen trotzdem gelang, private Erinnerungsstücke mitzunehmen, versteckten sie diese sorgfältig, damit sie auf der Flucht nicht abgenommen wurden.

Verschwommene Jugend

Auch das Elternhaus von Amila Širbegović (geb. Islamović) in Brčko im Nordosten Bosniens wurde im Krieg geplündert und schwer beschädigt. Zu diesem Zeitpunkt lebte Amila mit ihrer Familie bereits in Wien, wohin sie im Alter von 14 Jahren 1992 geflüchtet war. Heute besitzt sie nur mehr einige wenige Fotografien aus ihren ersten 14 Lebensjahren. Sie klebte sie Jahre später auf die ersten Seiten eines Albums, das ihre Jugendzeit in Brčko, vor allem aber in ihrem neuen Zuhause in Wien dokumentiert. Für Außenstehende verweist keines der im Album versammelten Bilder auf den großen biografischen Bruch, den das Jahr 1992 und mit ihm der Kriegsausbruch in Bosnien für sie markieren sollte. Lediglich ein beschädigtes Foto auf der ersten Albumseite, das Širbegovićs Klasse im Schuljahr 1990 zeigt, trägt direkte Spuren vom Krieg. Gemeinsam mit ein paar anderen Fotos wurde es von Freunden der Familie aus ihrem zerstörten Haus gerettet.

Mit dem Krieg ging nicht nur das Zuhause und somit ein Großteil der persönlichen Besitztümer und Erinnerungsgegenstände der Familie verloren. Der Krieg zerriss auch Širbegovićs Clique und verstreute ihre Freundinnen und Freunde auf verschiedene Länder und Kontinente. „Am meisten hat uns wehgetan, dass wir nicht mehr zusammen waren. Dass da Krieg war, war natürlich schwer. Aber am meisten haben wir gelitten, dass wir nicht zusammen sein konnten“, so Širbegović rückblickend. Via Briefe versuchten sie einander zu finden und an die gewaltsam auseinander gerissenen Freundschaftsbande wieder anzuknüpfen. In diesen erzählten die Jugendlichen von ihrem Alltag im neuen Land und tauschten Erinnerungen aus. Eine zentrale Bedeutung kam der letzten gemeinsamen Neujahrsfeier in ihrer alten Heimatstadt zu, die fotografisch festgehalten worden war. So heißt es in einem Brief, den Širbegović am 27. Mai 1993 von ihrer Freundin Zina aus Zagreb zugeschickt bekommen hatte: „Jetzt bete ich zu Gott, dass Adisa es aus Brčko schafft. Sie bekam irgendwelche Papiere, wenn sie es herüber schafft. Die Arme leidet dort schon ein Jahr. Wenn sie käme, würde sie die Fotos und den Film von der Neujahrsfeier bei Tanja mitbringen, dann hätten wir zumindest diese Fotos. Ich habe hier nur zwei Fotos von der Neujahrsfeier, auf einem sind wir alle, echt cooles Foto.” Ein paar Monate später, am 6. November 1993, schreibt Zina, die in der Zwischenzeit nach Melbourne in Australien ausgewandert war: „Adisa hat aus Brčko den Film von den Fotos von der Neujahrsfeier bei Tanja mitgenommen. Ich kann es kaum erwarten, dass sie ihn mir schickt.“

Wie aus den Briefen zu entnehmen ist, galt es den Film von der letzten gemeinsamen Neujahrsfeier sicher aus der belagerten Stadt zu bekommen: von Brčko nach Zagreb, um schließlich nach Australien weiter geschickt zu werden. Das Ergebnis der filmischen Entwicklung brachte unscharfe Fotos hervor, die dennoch verschickt wurden. Zu kostbar waren die damit verbundenen Erinnerungen. Darunter ist ein Gruppenfoto der alten Clique aus Brčko.

Die darauf abgebildeten Personen sind lediglich in Umrissen erkennbar. Širbegović klebte das Foto in ihr Album und versah es mit der Bildunterschrift „Nova godina 1992! Brčko“. Sie beschriftete auch das Foto selbst und stattete die abgelichteten Personen mit ihren Vornamen aus. Selbst Gegenstände wie der Fernseher, der Couchsessel und das Fenster im Hintergrund wurden gekennzeichnet. Unter normalen Umständen würde man so ein unscharfes Foto vielleicht nicht aufheben und in ein Album kleben. Für Širbegović ist es eine der wenigen Fotografien, die ihre Freundschaften und einer unbeschwerten Kindheit und Jugend vor dem Krieg dokumentieren. Diese privaten Erinnerungen sind so bedeutsam, weil sie trotz radikaler Verlusterfahrungen ein Gefühl von biografischer Kontinuität herstellen – eine Verbindung zwischen dem Leben vor Krieg und Flucht und jenem danach.

Die Geschichten rund um Ercegs Notizzettel und Širbegovićs Jugend-Album machen verschiedene Formen von Verlust sichtbar, die mit dem Flüchtlingsdasein einhergehen: Verlust von geliebten Menschen, von Zuhause, von Zugehörigkeit und Erinnerung, von persönlichem Besitz, sozialem Status und staatsbürgerlichen Rechten. Gleichzeitig sind es aber auch Geschichten, die davon zeugen, dass die Zerstörung der Erinnerungen und der persönlichen Verbindungen zwischen Menschen nicht gelingen konnte.

Spomenka – die Erinnernde

Dass trotz Krieg, Vertreibung und Flucht Verbundenheit und Solidarität möglich ist, führt schließlich ein Brief eindrücklich vor Augen, den Azra Merdžan im Sommer 1993 nach Wien erhielt. Ein Jahr zuvor war sie mit ihren Kindern hierher geflüchtet. Dem Brief waren Dokumente und Fotos aus Merdžans verlassenen Zuhause beigelegt. Die Absenderin des Briefes, Spomenka (ihr Nachname ist nicht bekannt), hatte diese persönlichen Dokumente in Merdžans ehemaligen Wohnung in Donji Vakuf in Zentralbosnien gefunden, in der sie nun wohnte. Spomenka wusste um ihre Bedeutung, hatte sie doch selbst, wie sie im Brief beschreibt, alles verloren:

„Azra! Ich kam aus Novi Travnik mit den Kindern und einer Schultertasche, nur um die Kinder zu retten. In deine Wohnung bin ich als dritte eingezogen. Aus der Wohnung war alles weggetragen, was in den Händen zu tragen war, außer sperrigen Sachen. Ich habe [in Novi Travnik] auch meine möblierte Wohnung und mein ganzes Leben […] gelassen, ich war dort 19 Jahre. Ich kam hierher, weil ich musste. Ich schicke dir die Dokumentation, die ich vorgefunden habe, und alle Fotos. Ich wäre glücklich, wenn mir jemand wenigstens meine Fotos schicken würde, deshalb habe ich deine behalten, nun schicke ich dir alles. Bleibt wohl und gesund, so viel von mir. Spomenka“

Die beiden Frauen waren aufgrund ihrer Herkunft unterschiedlichen Kriegsfronten zugeteilt: eine Bosnierin serbischer Herkunft aus Novi Travnik und eine Bosnierin muslimischer Herkunft aus dem 40 Kilometer entfernten Donji Vakuf. Sie sollten sich nie persönlich begegnen. Dennoch teilten sie das gleiche Schicksal: die gewaltsame Vertreibung im Zuge „ethnischer Säuberungen“ im Bosnienkrieg mit all den begleitenden Verlusten. (Vida Bakondy, 4.9.2020)


Vida Bakondy ist FWF-Hertha Firnberg Postdoc-Fellow am Institut zur Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraums der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, wo sie ein Forschungsprojekt zum Fotonachlass des Fotografen Jovan Ritopečki durchführt. Gemeinsam mit Amila Širbegović ist sie Kuratorin der Ausstellung Nach der Flucht, seit 15.9. in der Hauptbücherei am Gürtel zu sehen ist.

Der Text erschien am 4. September 2020 auf dem BALKAN-BLOG der Österreichischen Akademie der Wissenschaften auf derstandard.at. Die weiteren im Text besprochenen Fotos finden Sie ebenfalls auf derstandard.at

Fotonachweise

Nova godina 1992! Brćko. Foto: Amila Širbegović

Radmila Ercegs Notizzette. Foto: Vida Bakondy

Amila Širbegović und Vida Bakondy bei der Ausstellungseröffnung am 14. September 2020. Foto: Sabine Schwaighofer

Literaturhinweis

Mile Stojić: Via Vienna. Skizzen auf der Strecke Sarajevo – Wien, Klagenfurt: Drava 2013;

Dubravka Ugrešić: Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000.


Termine Ausstellungsgespräche

29. September 2020, 17h30: Selma Nišić (Zeitzeugin)

08. Oktober 2020, 17h30: Adisa Beganović (Zeitzeugin)

14. Oktober 2020, 17h30: Nero Beharić (Zeitzeuge)

12. November 2020, 17h30: Vida Bakondy, Amila Širbegović (Kuratorinnen)

Treffpunkt bei der Garderobe im Eingangsbereich der Hauptbücherei. Begrenzte Teilnehmer*innenzahl, Anmeldung: office@initiative.minderheiten.at

Programm

Die Ausstellung „Nach der Flucht“ ist noch bis 14. November in der Hauptbücherei am Gürtel zu sehen.

Eine Ausstellung von Vida Bakondy und Amila Širbegović für die Initiative Minderheiten, in Kooperation mit den Büchereien der Stadt Wien. Gefördert aus Mitteln der Integrationsabteilung der Stadt Wien.

 

 

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