Die Wissenschaft sagt A und daher sagen wir jetzt alle A

Die renommierte Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt spricht über die Ursachen und Auswüchse der Wissenschaftsskepsis – und nimmt dabei nicht nur die Politik, sondern auch die Wissenschaft selbt in die Pflicht. Das Interview hat Peter Illetschko geführt

© Heribert Corn

Illetschko: Österreich gilt als stark wissenschaftsskeptisches Land…

Felt: Das würde ich nicht so generalisieren. In Österreich gibt es schon bestimmte Konstellationen, in denen die Menschen sehr skeptisch sind, es gibt auch andere Momente, wo eine unglaubliche Wissenschafts- und Technologiegläubigkeit vorherrscht. Wir sind etwa relativ unkritisch gegenüber neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, wir sind dagegen sehr kritisch, wenn es um genetisch veränderte Nahrung geht und wenn es um Kernkraft geht. Das hat kulturhistorische Wurzeln: Ein Volksbegehren gegen das Atomkraftwerk Zwentendorf, in dem sich politische und wissenschaftliche Fragen wild durchmischt haben, ein Gentechnik-Volksbegehren, das in einem ideologisch aufgeladenen und von einem Informations-Wirrwarr geprägten Klima stattgefunden hat, haben in beiden Bereichen zu einer technikkritischen Haltung geführt. Spannend wäre, zu überlegen, wie die Entscheidungen heute vor dem Hintergrund eines spürbaren Klimawandels ausfallen würden.

Gibt es historisch Momente, die zeigen, wie diese sehr ambivalente Einstellung zur Wissenschaft entstanden ist?

Wenn man Wien am Beginn des 20. Jahrhunderts betrachtet, findet man schon diese Bruchlinien. Es gab eine verspätete Industrialisierung, es gab eine starke Sozialdemokratie, die versuchte, die Arbeitenden auf die neuen Begebenheiten vorzubereiten und umzuschulen und die von einem stark technologiepositiven Gedanken getragen war. Damals entstanden in Österreich auch die Volkshochschulen, die hierzulande eine im internationalen Vergleich überraschend hohe Qualität hatten. Ein Artikel in der Arbeiter-Zeitung beschreibt im September 1925 die Volkshochschulen als „Festungsgürtel der Volksbildung“ – zwischen der Urania und Ottakring. Es entstand die Vorstellung, dass man sich durch Bildung aus einer misslichen Lage herausziehen konnte. Gleichzeitig war aber auch der Einfluss des Kaiserreichs spürbar, das sehr konservativ und nicht gerade technologiefreundlich war. Spuren einer solchen Ambivalenz in Bezug auf Wissenschaft und Technik haben bis heute Bestand. Weshalb ich nicht von wissenschaftsskeptisch oder wissenschaftsfeindlich sprechen würde, sondern von einer tiefen historisch verwurzelten Ambivalenz in Bezug auf Wissenschaft. Die Ambivalenz besteht sogar innerhalb eines Menschen: Es gibt Leute, die vehement gegen die mRNA-Impfung sind, aber jederzeit ärztlichen Rat in Anspruch und Medikamente nehmen, weil es sie beruhigt und weil sie an die Wirksamkeit dieser Medikamente glauben.

Das Hauptargument gegen die Impfung war ja, sie sei noch nicht lange genug getestet worden. Mittlerweile wurde die Impfung mehrere Millionen Mal erfolgreich angewandt und das Argument wird immer noch angeführt. Warum?

Ich bin mir nicht sicher, ob sich Impfgegner gegen die Impfung per se auflehnen oder vielleicht eher gegen diese Intervention des Staates, diese Einmischung in Entscheidungen, die als privat betrachtet werden. Es gibt sehr viele antiinterventionistische Vorstellungen in unseren Gesellschaften. Man denke nur an die endlose Diskussion zur Homöopathie, da spielt sich einiges ab in der Bevölkerung, aber eine ernsthafte Auseinandersetzung im öffentlichen Raum gibt es dazu nicht wirklich.

Hat das Wort Gentechnik die potenziellen Impfgegner so stark getriggert?

Die Ablehnung gegenüber Wissenschaft ist durchaus sehr selektiv. Gentechnik ist sicher ein sensibles Thema. Das Anti-Impfthema würde ich nicht ausschließlich unter Wissenschaftsskepsis einreihen. Das ist so ein Stimmungshybrid – man nimmt die Politik als schwach wahr, hat das Gefühl, dass die großen Konzerne die Welt regieren, will sich und sein kleines Leben genau davor schützen. Natürlich gibt es auch Misstrauen gegen den Impfstoff, zum Teil gefüttert durch Falschinformationen. Ich finde aber sehr spannend, dass es diese Skepsis im Umgang mit neuen Informations- und Kommunikationstechnologien überhaupt nicht gibt. Wir befragen jederzeit Dr. Google, wir haben selbstverständlich unseren Account bei X, wir sind bei TikTok. Es gibt da schon auch Kritiker, aber niemand geht deswegen auf die Straße, obwohl die Informationstechnologien und die großen Konzerne sehr wohl Daten über uns sammeln, die nicht zu unserem Nutzen verwendet werden. Aber die Medizin wird viel direkter als Eingriff in die Privatsphäre gesehen.

Hat Skepsis hauptsächlich mit Bildung zu tun?

Felt: Nein, die Skepsis gibt es in allen Schichten. Und die Argumente können auch innerhalb einer Schicht ganz unterschiedlich sein. Aus meiner eigenen Erfahrung: Gebildete Menschen lassen etwa ihre Kinder impfen, weil es die Gesellschaft so erwartet, verweigern sich aber selbst. Die Kinder würden das noch nicht entscheiden können, sie aber schon. Eine höchst verquer anmutende Logik.

Hat die Wissenschaft im Zuge der Corona-Pandemie immer eine leicht vermittelbare Rolle gespielt?

Nein. Politiker und Medien haben teilweise so getan, als hätte die Wissenschaft immer, auch in dieser außergewöhnlichen Situation, in der wir alle waren, eine Lösung parat. Das stimmt einfach nicht. Forschende haben relevante Überlegungen zur Verbreitung dieses Virus angestellt, haben experimentiert, analysiert, andere sind auf scheinbar gegensätzliche Ergebnisse gestoßen. Damit ist nur sichtbar geworden, was in der Wissenschaft täglich passiert. Nur normalerweise sieht diesen Prozess in der Öffentlichkeit niemand. In der Corona-Pandemie hat man es mitbekommen. Es war auch fahrlässig, Modellierungen von möglichen Szenarien einem Politiker mitzugeben. Da hätte es eine Art „Beipackzettel“ gebraucht: Bitte nicht glauben, dass man diese Modellierung direkt umsetzen kann, das ist eine Worst-Case-Rechnung. Ich kann nicht beliebig Politik mit wissenschaftlichen Informationen füttern und darauf hoffen, dass sie das dann schon gut umsetzen werden.

Wir haben ein Problem und die Wissenschaft hat die Lösung: War diese Schlussfolgerung der große Irrtum der Politik?

Natürlich suchen wir in der Wissenschaft nach Antworten für ein bestimmtes Problem. Und manchmal finden wir Antworten, die wir nicht gesucht haben. Ein gewisses Zufallsprinzip, das in der Wissenschaft bestimmend ist, das man auch zulassen muss. Die Wissenschaft kann nicht Antworten auf Zuruf liefern. Das ist unsere Welt, und das bestimmt unseren Alltag. Natürlich hat man Fehler gemacht im Umgang mit Wissenschaft als Beratungsinstanz – und zwar auf allen Seiten. Eine ambivalente Haltung zur Wissenschaft kann durchaus positiv sein und zu wichtigen kritischen Fragen führen, für die es Platz geben muss. Am Beginn der Corona-Pandemie hat man aber genau das vermittelt: Die Wissenschaft sagt A und daher sagen wir alle jetzt A. Das war genauso fahrlässig. Die Politik muss Abwägungs- und Argumentationsarbeit leisten und nicht ausgewählte Experten und Expertinnen vorschieben. Und jetzt zu sagen, dass man nicht so viel auf die Wissenschaft hören soll, das ist, gelinde gesagt, erbärmlich. Und genau dort wird die angesprochene Ambivalenz klar. Man hätte nicht so viel auf die Wissenschaft hören sollen. Was soll das heißen? Herrschaftzeiten! Man hätte als Politiker handeln sollen. Und nicht eindimensional argumentieren sollen. Dann hätte es vermutlich in der Folge auch weniger Skepsis gegeben – was die Wissenschaft betrifft, aber vielleicht auch die Impfungen.


Der Text erschien in der STIMME Nr. 129/2023

Illustration: Fatih Aydoğdu

Ulrike Felt ist Wissenschaftsforscherin, seit 1999 ist sie Professorin für Wissenschafts- und Technikforschung am gleichnamigen Institut. Sie leitete dieses neu gegründete Institut von 2004–2014, und wieder seit Oktober 2018. Von 2014–2018 war sie Dekanin der Fakultät für Sozialwissenschaften. 


Der Jahresschwerpunkt 2023 der Initiative Minderheiten “Wissenschaftsskepsis – Folgen für die Demokratie ” wurde vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung und von der Österreichischen Gesellschaft für politische Bildung (ÖGPB) gefördert.

 

 

 

 

 

 

 

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