Lippenstift zum Ziegenbart, Rock mit Glatze

Mit der Pisa-Studie sah eine Reihe Erwachsener bestätigt, was sie immer schon zu glauben wusste: Mädchen lesen mehr und besser und Buben sind einfach nicht so interessiert an Literatur. Diverse Verlage reagierten darauf mit speziellen Jungs-Reihen, die in der Themenwahl und der Darstellung von Bubenfiguren fragwürdig an der Erhaltung von hegemonialen Männlichkeitsbildern (Raewyn Connell) mitwirken.

Als Korrektur der starren Konventionen finden sich am Kinderbuchmarkt aber auch Bücher, die in Bezug auf sex und gender ein breiteres Figurenspektrum von Männer- und Bubenfiguren aufweisen. Von Alleinerziehern bis zur Travestie gibt es einiges zu entdecken. Eigentlich gar nicht so einfach, sich auf ein paar Beispiele zu beschränken!

Neue Väterbilder

Ausgehend von den irischen und schottischen Mythen um Frauen, die eigentlich Seehunde sind, erzählt Nikolaus Heidelbach in „Wenn ich groß bin, werde ich Seehund“ (2011) die Geschichte eines Jungen, der mit Mutter und Vater an einer Meeresküste lebt. Die Mutter verlässt die Familie, weil sie als Seehund ins Meer zurückkehrt. Bemerkenswert erscheint, dass das Verlassen in dieser ungewöhnlichen Geschichte nicht als Vorwurf an die Mutter geschildert wird. Das Bilderbuch endet mit einem berührenden Vater-Sohn-Bild und der Text stellt sicher: „Jetzt ist Sommer und wir leben allein. Papa geht nicht mehr so oft zum Fischen. So kommen wir ganz gut zurecht.“

Nikolaus Heidelbach: Wenn ich groß bin, werde ich Seehund (Beltz und Gelberg)

Nikolaus Heidelbach: Wenn ich groß bin, werde ich Seehund (Beltz und Gelberg)

„…6, 7, 8 Gute Nacht“ (2011) von Michael Roher hingegen ist ein Buch, das endlich eine junge, zeitgenössische Vaterfigur in Cargohosen und Hoodie zeigt. Hier erhalten wir einen Einblick in gleichberechtigte Erziehungsarbeit: der junge Vater herzt das Baby, während die Mutter im Hintergrund schläft.

Michael Roher: …6,7,8 Gute Nacht (Mit freundlicher Genehmigung des Luftschacht Verlages)

Travestie

Herkömmliche Sehgewohnheiten bricht die Illustratorin Stefanie Harjes. Im Gedichtband „Ein Nashorn saß auf einem Baum“ (2012), das Harjes illustriert hat, tummelt sich jede Menge Getier, vollziehen sich Verwandlungen und verwischen die Grenzen, etwa wenn das titelgebende Nashorn klitzekleine Flügel hat, womit der Gegensatz zwischen Schwere und Leichtigkeit aufgehoben wird. Die einzige verwendete Schmuckfarbe ist Rosa, was bisweilen dazu führt, dass Harjes Figuren androgyne Züge bekommen. Rosa Lippen, Ziegenbart und Brustbehaarung: das geht neuerdings im Bilderbuch ganz wunderbar zusammen.

Stefanie Harjes (Ill.)/Manfred Mai (Text): Ein Naßhorn saß auf einem Baum (Boje Verlag)

Auch „Herr Lavendel“ (2012) aus dem gleichnamigen Buch von Michael Roher lebt einen Gegenentwurf zum Klischee. Der philosophisch veranlagte Mann, dessen Haar sich schon deutlich lichtet, strickt, gärtnert und wechselt die Garderobe, wie es ihm gefällt. „Heute lieber einen Rock“, heißt es und die Illustration zeigt Lavendel in geblümtem Kittel.

Michael Roher: Herr Lavendel (Bajazzo Verlag)

Travestie und Schwulsein sind in „Tim und die Antwort auf nichts“ (2012) Ausdruck für ein selbstbewusstes Leben. Der schüchterne Tim wird für ein paar Wochen bei seiner exzentrischen Urgroßmutter einquartiert. Dort lernt er ihren ältesten Freund kennen. Herr Pjotr, ein pensionierter Kapitän, trägt Stöckelschuhe und ein weißes Schleppenkleid. Entwaffnend einfach erklärt er seinen Stil: „Manche Menschen sind oft traurig, andere immer fröhlich, manche sind besonders mutig und manche ziehen eben Kleider an und tragen Stöckelschuhe.“ Herrn Pjotrs Begehren wird allerdings ganz deutlich ausformuliert: „Die Liebe fällt in jeden hinein, und in wen oder was du dich verliebst, das hast du nicht in der Hand. […] Und ich habe mich eben in einen Matrosen verliebt. Zum Glück muss ich sagen, denn wenn ich mich in einen Topf verliebt hätte, wäre das sicher nicht so lustig gewesen.”

Andrea Steffen ((Ill.)/Jan Neumann (Text): Tim und die Antwort auf nichts (Mixtvision Verlag)

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