Von Generation XYZ und Generation Google oder von Generation Golf bis Praktikum haben wir schon oft gehört. Aber was halten Sie von folgender Kombination: Generation Migration? Nun kann die Frage aufgeworfen werden, ob der Generationenbegriff überhaupt geeignet ist, um eine wissenschaftliche Diskussion im Kontext Migration zu führen. Auf den ersten Blick scheint es doch recht mühsam zu sein, den Generationenbegriff für die Migrationsforschung fruchtbar zu machen. Schließlich wird er bekanntermaßen für wohlklingende Werbeversprechen instrumentalisiert und hat mittlerweile den Touch eines nüchternen Marketingtricks. Da er aber schon eine lange sozialwissenschaftliche Vorgeschichte hat, lasse ich es hier auf einen Versuch ankommen und ziehe ihn aus dem Archiv der (un)nützlichen Begriffe. Auf den zweiten Blick zeigt sich nämlich, dass in Migrationskontexten häufig die Rede von Generationen ist. Allerdings weniger klangvoll und werbend, dafür umso ambivalenter und spannungsreicher. Beispielsweise kursiert im deutschsprachigen Raum die Vorstellung von einer ersten Migrantengeneration. Zumeist sind damit männlich-muslimische angeworbene Gastarbeiter gemeint. Zur zweiten Generation werden all jene imaginiert, die von ihnen abstammen, mittlerweile reicht diese Zugehörigkeitsverweisung bis in die vierte Generation hinein und hier stecken wir mitten in den Turbulenzen des Migrantengenerationenkonzeptes und sehen uns einer fast unaussprechlichen Worttorheit gepaart mit einer geballten Integrationssemantik gegenüber. Einmal Migrant, immer Migrant? Ewig fremd und wenn JA, warum gilt diese unumkehrbare nie endend wollende Festschreibung nur für bestimmte Gruppen? Mobile Hochqualifizierte, EU-Binnen-Migranten oder Menschen mit Zweitwohnsitzen auf der Welt haben selten einen so viel diskutierten Migrationshintergrund. Auch Langzeittouristen sind davon ausgenommen. Jetzt stellt sich die Frage, warum dann der Generationenbegriff ausgerechnet bei Migration und Bildung eine Rolle spielen soll. Einfach deswegen, weil er zu einer kritischen Begriffsdiskussion und Transcodierung einlädt. Migration hat doch an sich etwas mit Bewegung und Veränderung zu tun und versperrt sich grundsätzlich gegenüber homogenisierenden sowie hierarchischen Generationenkonzepten. Migration ist Bewegung und Bewegung ist Bildung, lautet die hier vorgeschlagene Kurzformel. Schließlich haben sich Menschen seit Urzeiten bewegt, da sie sonst bereits ausgestorben wären. Die Mehrheit hat schon ihre Beine benutzt und keine Wurzeln geschlagen, möchte man hegemonialen Generationendiskursen als Offerte entgegenstellen. An manchen Stellen wird auch öffentlich von Migration als eine transgenerationale Normalität ausgegangen, beispielweise in Zu- und Abwanderungsstatistiken. Weiterhin werben urbane Städte und weltoffene Institutionen mit ihrem Migrationshintergrundanteil in der Bevölkerung bzw. Belegschaft. Dennoch entfaltet das Generationenkonzept seine größte (negative) Wirksamkeit, wenn imaginierte Parallelgesellschaften, unspektakuläre Burkinis und Kopftücher im Rampenlicht stehen. Weiterhin tauchen Jugendliche mit Migrationshintergrund explizit in Bildungsberichten auf, allerdings – und das ist kritisch zu betrachten, nicht als Personengruppe mit hohen Globalisierungs- und Diversitätskompetenzen. Dabei lassen sich solche Kompetenzen in ganz banalen Alltagssituationen beobachten, wie neulich bei einer Fahrt mit der Straßenbahn. Dort musste ich feststellen, dass die Konstruktion von Menschen mit Migrationshintergrund über Generationen hinweg im Alltag eine diskriminierende Benennungspraxis darstellen kann. Folgendes hat sich so ähnlich, zugegebenermaßen etwas ausgeschmückt, in der Straßenbahn zugetragen:
Mein jüngerer Bruder und ich sind neu in Innsbruck und befinden uns zu Fuß irgendwo am Rande der Stadt. Wir möchten etwas schneller zurück ins Zentrum und erkundigen uns bei einem Straßenbahnfahrer. „Fahren Sie zum Hauptbahnhof?“ „Ja, steigen Sie ein!“ Er verkauft uns zwei Tickets ohne weitere Worte zu verlieren. Wir setzen uns schweigend auf die Dreier-Reihe längs zur Fahrtrichtung hin. Nach einer Weile habe ich das Gefühl, dass wir gleich kontrolliert werden könnten, nur so eine Vorahnung. Nun kommt ein sportlich gekleideter Mann, den ich auf Mitte 30 schätze, in Turnschuhen und Jeans durch die Bahn gelaufen. Sporadisch fragt er die Gäste nach ihren Fahrscheinen. Neben mir wird eine ältere Dame, die einen Florentinerhut trägt, etwas unruhig. Sie schaut sich um, schaut nach rechts und links. „Hat sie keinen Fahrschein?“ denke ich. Sie trägt eine weiße Bluse mit Bubikragen sowie eine schmale Hose. Ihr Erscheinungsbild lässt auf einen bildungsbürgerlichen Vordergrund schließen. „Murmelt Sie etwas?“ Ich versteh es kaum, aber scheinbar, so sind aus den wahrnehmbaren Wörtern zu entnehmen, hat es mit dem Kontrolleur in Jeans und Turnschuhen zu tun. Er spricht mit einigen Fahrgästen türkisch. „Wo sind wir denn hier?“ ist von der Dame neben mir zu vernehmen. Scheinbar ist sie nicht ganz damit einverstanden, von einer Person mit Migrationshintergrund kontrolliert zu werden, noch dazu, wenn er mehrsprachig ist. Ich schaue mich ein bisschen um, denn die Sache gewinnt an Fahrt und ich vermute, dass jetzt Alltagsrassismus eine Rolle spielen könnte. Uns gegenüber sitzt eine Familie, die ebenfalls türkisch auf einem muttersprachlichen Niveau spricht. Auch der zweite Kontrolleur und ja, jetzt fällt es mir auf, auch der Bahnfahrer sind äußerst sprachenkompetent und tauschen sich vorne an der Fahrerkabine auf Türkisch aus. Tja, aus der Perspektive der älteren Dame neben mir, die ich als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft verorte, muss ich feststellen, sie ist in einer Minderheitenposition. 1:0 für die Migrationsanderen.
Nach dem ersten Akt, folgt nun der zweite Akt sogleich: Die ältere Dame sucht vehement nach Verbündeten, die ihren Protest gegenüber dem sowohl türkisch als auch deutsch sprechenden Kontrolleur teilen könnten. Da steigt ein älterer Herr, in Tracht gekleidet, ein. „Die Rettung“, scheint die Dame zu hoffen und sieht schon ihren neuen Verbündeten. Der ältere Herr, der sich mit Mühe auf seinen Unterarmgehstützen hält, scheint um die 80 Jahre alt zu sein. In seiner Tracht sieht er ziemlich traditionsbewusst aus. Man möchte fast schon Haltung annehmen, aber wir sind in Tirol und hier ist so etwas eher normal. Vielleicht ist er der richtige Ansprechpartner für meine Sitznachbarin, so mein Bild im Kopf. Der neue Fahrgast, der ganz in Dunkelgrün gekleidet und etwas wackelig auf den Beinen ist, ist jedoch auf die Hilfe des Bahnfahrers und des zweiten Kontrolleurs angewiesen. Diese unterstützen ihn beim Einsteigen. Der ältere Herr bedankt sich sehr bei den beiden und beginnt ein fröhliches Gespräch mit ihnen. Der gesellige Mann im Jägerkostüm bringt sogar ein paar türkische Wörter mit ein und verströmt positive Energie. Die Reise durch Innsbruck scheint noch ein fröhliches Ende zu nehmen. Er schwenkt in keiner Weise in die Migrationskritik der älteren Dame ein. Nun kommt der Kontrolleur in unsere Richtung, kontrolliert ausgerechnet meine Sitznachbarin und geht dann weiter. Er kommt abermals an ihr vorbei. Nun spricht die Dame den Kontrolleur direkt an. Sie möchte unverzüglich seinen Namen wissen und sich diesen notieren. Mit etwas Nachdruck und Energie besteht sie darauf. Der Kontrolleur erwidert, er habe keinen Namen. Die Dame ist ziemlich pikiert und fragt, „Wie bitte?“ Er müsse ihr ja wohl seinen Namen verraten. „Unverschämtheit, oder?“ fragt sie mich. Die Sache geht weiter und ist noch en Detail zu klären. Jetzt zeigt er ihr seinen Kontrolleur-Ausweis mit einem Passbild und einer Nummer darauf. Er sagt, er müsse gar nichts, sein Name sei wie die Nummer auf dem Ausweis IBK253647XXX. Sie könne sich beschweren gehen, wenn sie wolle, er wisse aber nicht, was das solle oder worum es ihr eigentlich ginge. Dann unterhält er sich mit seinen Kollegen weiter. Die Familie, die vor uns sitzt, scheint das alles überhaupt nicht zu interessieren. Die Dame, die trotz ihrer vehementen Bemühungen nur mäßigen Erfolg hatte, beginnt jetzt aufgeregt zu telefonieren und macht ihrem Ärger Luft. Wortfetzen sind zu vernehmen: „…deutsche Sprache“ und dass man das HIER ja wohl noch sagen dürfe. Der Kontrolleur und der Fahrer beginnen sich nun, in der hiesigen Amtssprache über sie lustig zu machen. Die Welt hätte sich da draußen eben verändert. Die Dame schaue wie ein Pferd, immer nur gerade aus. Dabei machen sie die passenden Gesten, machen eine verlängerte Handbewegung nach vorne und zeigen lustige Pferdenasen. Man könne ihnen schließlich nicht alles nehmen, alles verbieten. Es gäbe Menschenrechte. Ich denke, die Sache geht in die richtige Richtung. „Nächster Halt: Migration Postmigration“, höre ich eine Stimme sagen. Wir verabschieden uns bei dem Fahrer mit seinem Team und steigen am Hauptbahnhof aus. Wir sind etwas geschafft. Solche Situationen wie in der Bahn sind mit Sicherheit keine Seltenheit, aber in dieser postmigrantischen Theaterqualität und mit einem so gelungenen Finale eher selten.
Wenn wir die Geschichte nochmal Revue passieren lassen, so fällt auf, dass solche Situationen, oft vorkommen. Es ist sogar so, dass sie zum alltäglichen Erfahrungshorizont gehören und deshalb für viele Beteiligte nicht der Rede wert erscheinen oder erst mit der sozialwissenschaftlichen Brille an Schärfe gewinnen. Den Kontrolleuren und dem Bahnfahrer sind diese Alltagsrassismen sofort aufgefallen und sie entschlossen sich dazu, die hegemoniale Perspektive der Dame umzukehren. Die Welt habe sich verändert, es gebe Menschenrechte, entgegnen sie der banalen Alltagssituation. Damit zeigen sie den ethnisch-zentrierten Festschreibungen eine Pferdenase und geben Anlass die Generationenfrage im Kontext Migration neu zu verhandeln.
So betrachtet stellt sich die Szenerie in der Straßenbahn als eine Transtopie oder als ein Möglichkeitsraum dar, welcher zur Reflexion über gesellschaftliche Machverhältnisse im Zeitalter mehrheimischer Lebensentwürfe einlädt.
Mehr zum Thema: Im Sommer 2016 fand in Innsbruck eine Internationale Migrationskonferenz zum Thema Generation statt. Alle Plenen-Vorträge können unter dem nachfolgendem Link nachgehört werden: https://www.uibk.ac.at/newsroom/internationale-migrationskonferenz-in-innsbruck.html.de (Stand: 27.10.2016)