Eine der merkwürdigsten Eigenschaften unseres „bildungsnahen“ Bevölkerungssegments ist die Neigung zur Selbstzerfleischung. Die meisten medialen Intellektuellen hierzulande lieben es etwa, sich genüsslich über die Abgründe der österreichischen Seele auszubreiten. Sie prangern die landläufige Autoritätshörigkeit an. Auch die nie eindeutigen Aussagen der Österreicher_innen bilden ein notorisches Dauerthema. Neidgenossenschaft, Kleinkariertheit, übermäßiger Hang zum Alkohol oder lebenslanges Nörgeln stehen auf der Selbstzweifelsliste ebenfalls ganz oben.
Lange Zeit habe ich diese selbstkritische Haltung geschätzt und gelobt, bis mir klar wurde, dass sie gar keine Selbstkritik ist, sondern eine strategische Neurose. Allmählich scheint mir, die wichtigste Motivation für diese öffentlich-kollektive Selbstzüchtigung liegt in der Angst meiner Landsleute, andere würden ihnen zuvorkommen. Stellen Sie sich vor, der Piefke tritt arrogant vor und spricht in seinem übertrieben klaren Deutsch abfällig über den Schluchtenscheißer! Oder der Franzose, der uns nicht einmal vom Piefke unterscheiden kann und für ewige Nazis hält! Von so einem dahergelaufenen Kara Mustafa im Ösi-Pelz wie mir will ich gar nicht erst anfangen. Also lieber selbst über sich reden und die Deutungshoheit über die österreichische Seele behalten.
Der zweite Grund für die lokale Seelenstriptease ist wiederum reine Taktik in Gestalt der Identitätspflege: „So samma halt! A bisserl düster und zwider, aber scho gmiatlich.“ Der Österreicher hat einen schwarzen Humor, ist dafür gutmütig („Krüppel ham so was Rührendes“). Sein stetiges Beleidigtsein zeugt vom argwöhnischen, am Ende jedoch reinen Charakter. Im tiefen Grunde seines Herzens ist er ein Bockerer, ein Natural Born Anti-Nazi („Ihr Blatt, Herr Rosenblatt!“), wenn er nicht gerade den Meisterprolo Mundl gibt (ist ja auch interessant, dass ein Schauspieler beide Rollen gespielt hat).
Das Bild des grantigen, misstrauischen und doch liebenswerten Österreichers lieben vor allem die erwähnten Intellektuellen, denn darin können sie auch sich selbst wiederfinden und weißwaschen. Und gibt es etwas Nützlicheres, als sich in der altruistischen Pose des Nestbeschmutzers zu suhlen? Auf diese Weise kann man mehrfach geprüfte, nachgerade bombensichere Selbstklischees ins Feld führen, ohne sich mit Analyse und Kritik das Gewand schmutzig machen zu müssen. Zudem ist Nestbeschmutzen just bei den Beschmutzten als lustiger Volkssport hoch angesehen („Des is a Hetz und kost net viel“), jedenfalls post mortem: Thomas Bernhard gibt es bereits in jedem dörflichen Sommerfestspielhaus, wo sich das aufstrebende Kulturpublikum über gehobene Österreichbeschimpfungen zerkugelt. Geben wir es doch zu: Der österreichische Nestbeschmutzer ist in Wirklichkeit ein Ösi-Versteher mit schlechten Manieren und Mundgeruch.
Kollektive Selbstzerfleischung hat freilich auch eine Kehrseite: Selbstüberhöhung. Das beste Beispiel hierfür liefern die Wahlen, die in unserem schönen Land zum großen Ärger der Sozialpartner immer wieder abgehalten werden. Wenn etwa bei einer Wahl die Rechtsaußen-Partei ihren Stimmanteil erhöht (was ja seit Mitte der 1980er Jahre regelmäßig vorkommt), ist die Empörung der Gebildeten groß. Sie sehen schon den braunen Sumpf brodeln, hören Heil-Rufe zu Wagner-Ouvertüren erklingen und rufen selbst zu Flucht in andere Länder auf – Österreich als schlimmstes Fleckchen Erde auf Gottes Boden.
Wenn aber die Rechten plötzlich eine Wahl verlieren – sei es auch die Bürgermeisterwahl in irgendeiner Pampa-Gemeinde –, ist die darauffolgende Zuversicht so groß, als hätte Österreich eine neue Staatsform namens Demokratie erfunden. „Das andere Österreich hat gesprochen!“, lautet dann das Mantra.
Das geschah auch nach den Bundespräsidentschaftswahlen im Mai: Die gebildeten Guten haben sich über den Wahlausgang – zu Recht – gefreut. Da es aber ohne Selbstüberhöhung kein Land der Berge gibt, wurde aus dem recht dürftigen Wahlergebnis rasch ein seltsamer Weltmeistertitel zusammengezimmert: „Wir haben den ersten grünen Bundespräsidenten der Welt!“ Und das, obwohl der „Grüne“ vor der Wahl mehrmals gesagt hatte, er sei nicht Kandidat der Grünen, und unmittelbar nach der Wahl auch seine Parteimitgliedschaft ruhend gestellt hat.
Hätte indes sein Widersacher gewonnen, wären die Selbstüberzeichner sofort wieder zur Stelle und hätten auch daraus – geradezu stolz – einen Fall für das Guinness-Buch der Rekorde gemacht: „Wir haben den ersten Neonazi als Bundespräsidenten in der westlichen Welt!“
Das Pendeln zwischen den beiden Extremen hängt mit einem weiteren eigenartigen Sachverhalt zusammen: Die meisten meiner Bekannten merken erst von Wahl zu Wahl, dass wir in diesem Land ein Rassismus-Problem haben und die Rechte hier stärker wird. Sie sind ernsthaft erstaunt und empört darüber, dass man in Österreich mit rassistischer Hetze und minderheitenfeindlichen Sprüchen Wahlen gewinnen, jedenfalls mehr Stimmen bekommen kann. Die meisten mir bekannten Migrant_innen oder Leute mit „Hintergrund“ hingegen sagen nach jeder Wahl fast einhellig, just dieses Ergebnis hätten sie ja erwartet. Kann es sein, dass sie dank ihrer alltäglichen Konfrontation mit Diskriminierung und Diffamierung – wider Willen! – sensibler sind für den Gestank rassistischer und minderheitenfeindlicher Winde?
Interessant ist zudem, dass jene Bilder, Begriffe und Beispiele, die dem post-plebiszitären Staunen gebildeter Österreicher_innen Ausdruck verleihen sollen, stets mit Nationalsozialismus zu tun haben – als wären unter Europas Himmel seit Himmler und Hitler keine rechten Stinkblumen mehr gediehen! Die Empörten beten zwar gerne Phrasen wie „Neo-Rassismus“ und „Kulturalismus“ herunter, suchen zugleich noch immer nach Kornblumen am Revers, um Rassismus identifizieren zu können.
Zwischen Selbstzweifel und Größenwahn erstreckt sich das gebildete Segment unseres Landes. In der Regel neige ich nicht dazu, die goldene Mitte als Lösung anzupreisen. Doch muss ich in diesem Fall des kollektiven Narzissmus meinen Landsleuten empfehlen, sich der leidigen Tatsache zu stellen: dass wir nämlich in einem stinknormalen mitteleuropäischen Land leben, das ebenso durchschnittliche Rassist_innen und Alkoholiker_innen hervorbringt wie durchschnittliche Demokrat_innen und Nichtraucher_innen. Vielleicht gar ein bisserl zu durchschnittliche …
Stimmt durchaus. Ich habe vor kurzem wie folgt formuliert: “Speziell in Österreich entstand eine Art Thomas-Bernhard-Syndrom.
Eine bemerkenswerte Nabelschau der eigenen Kultur, die sicherlich ein
Gut ist, wovon es vielerorts leider zu wenig gibt. Aber zugleich stellt
sie einen Mangel des österreichischen Homo Academicus dar, da er
eine gewisse Scheu zu besitzen scheint, die ihn in daran hindert,
anderen Kulturen gegenüber etwas sachlicher zu sein.”