Was sagt es aus, wenn die größte Oppositionspartei der Republik zwei Tage benötigt, um den Rücktritt des amtierenden Innenministers zu fordern, nachdem dieser sich in der ORF-Sendung „Report“, also im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und zur besten Sendezeit, mit der imperativen Aussage zu Wort meldet, das Recht habe der Politik zu folgen und nicht die Politik dem Recht und diese Aussage bezieht sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention? Was sagt es aus, wenn die eine der beiden kleineren Oppositionsparteien zu diesem Zeitpunkt bereits einen Misstrauensantrag angekündigt und die zweite der Kleineren sich auch zwei Tage danach noch nicht zu Wort gemeldet hat? Wenn Bundespräsident und Altbundespräsident – laut ORF-Berichterstattung – „mahnende Worte“ finden und der Bundeskanzler – ebenso laut ORF-Berichterstattung – ein „klärendes Gespräch“ geführt hat, bevor er zusammen mit der Außenministerin staatstragend zum Weltwirtschaftsforum in Davos abreist? Die Präsidentin der Richtervereinigung die Aussage des Ministers als Angriff auf den Rechtsstaat interpretiert, und 215 Künstler schriftlich den Rücktritt des Ministers fordern? Und was sagt es aus, dass ein auf die Republik vereidigter Innenminister eine solche Aussage über die Rangordnung von Recht und Politik/PolitikerInnen überhaupt trifft? Und derselbe Minister bereits mehrfach mit ähnlichen Aussagen und Ankündigungen aufgefallen ist, die im Kern dem Wunsch und der Absicht Ausdruck verleihen, man müsse einfach „ein bisserl kreativ sein“ in der Auslegung der aktuell geltenden Gesetze, sofern sie sich auf den rechtlichen Umgang mit auf dem Staatsgebiet der Republik sich aufhaltenden Nicht-Österreichern beziehen? Was sagt es aus?
Zunächst, dass das Privileg, in einer Demokratie mit freien Wahlen und freier Meinungsäußerung zu leben, kein Ruhekissen ist, auf dem man gelassen sitzend, denjenigen zusehen sollte, die unter Nutzung ihrer demokratischen Rechte und Freiheiten genau jene Strukturen in Frage stellen und durch ihre Äußerungen untergraben, die ihnen die Möglichkeit zu diesen Äußerungen geben.
Betrachtet man die aktuelle Aussage des Innenministers nämlich abseits ihres Kontextes, so trennt sie einzig der ihr zentrale Imperativ („hat zu“) von einer Tatsachenbeschreibung zur Entstehung von Gesetzen: Gesetze sind Menschenwerk und keine sakrosankten Tabus. Irgendwann in der Geschichte hat jemand – meistens politische Entscheidungsträger – aufgrund politischer Wunschvorstellungen und/oder gesellschaftlicher Gegebenheiten die Notwendigkeit gesehen, ein Gesetz zu beschließen. Insofern bilden Gesetze den Zustand einer Gesellschaft und der von ihr legitimierten Politik ab: Man fasst Tatbestände, die als gesellschaftliche Probleme existieren, in Gesetze, um so den Zustand der Gesellschaft – aus Sicht der Entscheidungsträger – zu optimieren. Und ändern sich die Bedingungen, kann man Gesetze ändern – so, wie man sie zuvor beschlossen hat.
Insofern stimmt – historisch betrachtet – die Aussage, das Recht richte sich nach der Politik und nicht die Politik nach dem Recht: Gesetze sind ein Abbild des Willens der je aktuellen politischen Entscheidungsträger ebenjener Gesellschaft, in der sie zuerst beschlossen wurden.
Doch genau darin liegt die Gefahr von Demokratien und dem, was sie als eines ihrer höchsten Güter betrachten: freie Wahlen und (politische) Meinungsfreiheit, wenn man sie zu sehr als unangreifbar und als tiefer in der Gesellschaft verankert betrachtet, als sie es vielleicht sind.
Wen demokratische Wahlen an die Macht tragen, der besitzt die Macht, über die Änderung von Gesetzen die Gesellschaft zu verändern. Und wer als politischer Entscheidungsträger den skizzierten Zusammenhang von Politik und Recht als Imperativ, also als Forderung, formuliert, deutet eine Sicht der Welt an, in der die Lebensumstände der Menschen von der Politik befohlen statt abwägend und verhandelnd, also demokratisch, befördert werden.
Die historische Rückschau lehrt, dass Autokratien sehr oft in demokratischen Bewegungen begannen. Gesetze im Verfassungsrang, also mit 2/3 Mehrheit, sind Ausdruck der historischen Lehren dieser Tatsache: Sie sollen vor politischer Willkür in der Gesetzgebung schützen, ebenso wie parlamentarische Immunität den politisch Andersdenkenden vor über die Justiz betriebener politischer Verfolgung schützen soll. Gleichzeitig aber wirkt diese Immunität wie die Anwendung der Aussage des Ministers: Sie hebt den Parlamentarier zumindest partiell über das Gesetz, denn nur der, dessen Immunität per Beschluss aufgehoben wird, kann rechtlich belangt werden.
Doch wie steht es mit der Sensibilität für diese Mechanismen und Hintergründe, bei PolitikerInnen und BürgerInnen? Sind drei Tage nicht schon zu lang, um sich zu positionieren? Betrachtet man die weitgehende Beschränkung auf vor allem mahnende Worte angesichts der sich häufenden Aussagen in immer die gleiche Richtung, so bleibt Verunsicherung und, in Bemühung des Vergleichs mit dem im sich erhitzenden Wasser ausharrenden, und proportional zum Grad der Erhitzung rötenden Hummers, die Frage:
Wie rot sind wir schon?