Mir lebn ejbig

Julia Hofbauer von Radio Stimme – die Sendung für KopfhörerInnen hat letzte Woche in der Kategorie Bildung/Wissenschaft den Radiopreis der Erwachsenenbildung gewonnen. Wir freuen uns mit ihr, gratulieren ganz herzlich und veröffentlichen die Nachlese zur preisgekrönten Sendung (erschienen in der Stimme-Ausgabe 106 im Frühjahr 2018).

Trotz der grauenhaften Lebensumstände sind in den Konzentrations- und Vernichtungslagern eine beachtliche Zahl an Gedichten, Zeichnungen, Kabarett- und Theaterstücken und auch Musikstücken entstanden. Das Spektrum der komponierten und gesungenen Musik war außergewöhnlich umfassend und beinhaltete bekannte sowie umgetextete Volkslieder oder Schlager genauso wie Jazz oder klassische Musik bis hin zu ganzen Opern. Musik in Konzentrationslagern hatte viele Funktionen und wurde daher auch sehr unterschiedlich rezipiert– eine behutsame und vielschichtige Diskussion über diese Musik ist daher unerlässlich.

Die SS-Lagerleitungen setzten Musik als strategisches Machtinstrument und als Teil des Terrors ein. Oft wurden Lagerorchester aufgebaut, die auf Befehl beim Auszug und der Rückkehr der Arbeitskommandos Marschmusik spielen mussten. Wenn neue Transporte im Lager ankamen, bei Deportationen in andere Lager, während Hinrichtungen und Bestrafungsaktionen wurde Musik zur Beruhigung und Vertuschung eingesetzt. Eine weitere Funktion der Musik war Verhöhnung und Demoralisierung der Häftlinge. Im Konzentrationslager Buchenwaldmusste etwa das „Buchenwaldlied“ von Fritz Löhner-Beda und Hermann Leopoldi am kalten Appellplatz von den entkräfteten Inhaftierten über Stunden geübt werden.[1]Bei Inspektionen ließ man die jüdischen Häftlinge das „Judenlied“ – voller Selbstbezichtigungen und antisemitischer Klischees – singen.[2]Musiker_innen wurden auch zur Unterhaltung der SS bei Feiern oder zu Propagandazwecken eingesetzt.[3]

Aber auch die Menschen im Konzentrationslager selbst hatten ihre Musik. Diese wurde unter großem persönlichen Risiko illegal getextet, komponiert und gesungen oder von der SS toleriert. Diese Musik diente der Selbstbehauptung, dem Erhalt der eigenen Individualität und dazu, sich gegenseitig Mut zu machen und sich von den schrecklichen Ereignissen in der Gefangenschaft abzulenken[4], wie Ilse Weber in ihrem Gedicht „Musica Prohibita“ schreibt:

„Wir dürfen, umgeben von Tod und von Grauen,

den Glauben an uns nicht verlieren,

wir müssen der Freude Altäre bauen

in den düsteren Massenquartieren.“[5]

Musik diente auch zur Dokumentation der Zustände in den Konzentrationslagern. In vielen Liedern werden die schlechten hygienischen Bedingungen, Brutalität sowie Zwangsarbeit, Krankheiten und Mord besungen, beispielsweise im „Auschwitzlied“ von Camille Spielbichler (oder Margot Bachner) oder im Lied „Tanz Mädchen!“ von Krystyna Żywulska. Es gab auch direkten Widerstand in Musikform, beispielsweise das Lied „Mir leben ejbik“, das von Lejb Rosental im Wilnaer Ghetto geschrieben und aufgeführt wurde. Hier wird nicht nur die jiddische Sprache verwendet, es wird zudem unbedingter Überlebenswille und der Sieg über alle Feinde besungen. Die Grenzen sind allerdings fließend, denn auch in der Musik, die von der SS befohlen wurde, konnten oft widerständige Elemente untergebracht werden. Sogar das, oben erwähnte, „Buchenwaldlied“ konnte später als widerständiges Lied gedeutet werden, vor allem wegen der letzten Zeilen: „Wir wollen trotzdem „ja“ zum Leben sagen, denn einmal kommt der Tag, dann sind wir frei!“[6]

Musik als Mahnmal: „Partituren der Erinnerung“

Der Band „Partituren der Erinnerung. Der Holocaust in der Musik“[7]versammelt die Vorträge der gleichnamigen Tagung des Wiener Wiesenthal-Instituts für Holocaust-Studien aus dem Jahr 2011. Inhaltlich starten die Beiträge bereits während des Nationalsozialismus und setzen sich mit Produktionsverhältnissen unter Berufsverboten, Verfolgung und „rassischer Segregation“ sowie der Situation für Musiker_innen in Lagern und Ghettos auseinander. 

Der zeitliche Bogen spannt sich bis in die heutige Zeit – die Beiträge befassen sich mit Fragen nach den Funktionen von Musik für das kulturelle Gedächtnis, als Erinnerungsmedien und Vermittelnde zwischen damals und heute. Hier geschieht einerseits eine Kanonisierung von bestimmten Stücken, die international als „Holocaust-Gedenk-Musik“ anerkannt sind und an Gedenktagen gespielt werden, andererseits lassen sich Tendenzen in der Gestaltung der Kompositionen erkennen. Erwähnung im Buch findet z.B. die Entwicklung der Monumentalwerke für großes Orchester samt Chor in den 1950er-Jahren bis zu Kompositionen für Kammermusik mit Streichquartett und Solostimme und immer minimalistischeren und abstrakteren Instrumentalisierungen, wie sie später üblich wurden. Allgemein lassen sich drei große Diskurse ausmachen: Wiederaufführungen von Musik und Vertonungen von kulturellen Artefakten aus der Zeit des Nationalsozialismus, Produktionen einer widerständigen Erinnerungskultur ab den 1980ern sowie Narrative, die sich dem Thema Traumata und Erinnerung abstrakter annähern.

Julia Hinterbergers Aufsatz „I never saw another butterfly“ hat Vertonungen von Artefakten aus Konzentrationslagern zum Thema. Pavel Friedmanns Gedicht „Der Schmetterling“ steht wie kein anderes für das Vermächtnis von Kindergedichten aus dem Konzentrationslager Theresienstadt. Kinder und Jugendliche wurden in Theresienstadt lediglich mit Singen und Zeichnen beschäftigt, Bildung konnte nur heimlich und unter Lebensgefahr der Lehrer_innen erfolgen. Erhalten geblieben sind zahlreiche Texte und rund 4.000 Zeichnungen, die teilweise vertont wurden. Diese Vertonungen bemühen sich meist um eine „Authentifizierung und greifen daher oft auf Kinderchöre und junge Stimmen zurück. Hinterberger kritisiert, dass insbesondere die Zeichnungen durch die Vertonung oft mit neuen Inhalten aufgeladen wurden und der Authentizitätsanspruch damit ad absurdum geführt wird.

Beate Kutschke befasst sich in ihrem Text „The Triumph of Death“ mit auslösenden Faktoren für Holocaust-Kompositionen in den 1980er-Jahren und geht dabei insbesondere auf einen Paradigmenwechsel in der deutschen politischen Kultur ein. Die 1982 angetretene christdemokratisch-liberale Regierung unter Kanzler Kohl hätte ein „Vergeben-und-Vergessen“ befürwortet, gegen das sich Widerstand im sogenannten Historikerstreit ab 1986 artikulierte. Dabei standen sich unterschiedliche Annahmen zur Verantwortung für die Shoah gegenüber. Intentionalist_innen sehen die Verantwortung bei ranghohen Funktionär_innen der Naziregierung, während Funktionalist_innen die Shoah als Verbrechen eines gesamten Gesellschaftssystems betrachten. In diesem diskursiven Gefüge um Schuld, Verantwortung und Handlungsmacht ist der erneute Aufschwung an Holocaust-Kompositionen ab den 1980er Jahren zu sehen, zu dem auch Frederic Rzewskis postminimalistisches Stück „The Triumph of Death“ gehört.

Chaya Czernowin’s Oper „Pnima – im Inneren“ steht im Fokus des Beitrags von Golan Gur. Die Oper basiert auf dem Text „See Under: Love“ des israelischen Schriftstellers David Grossmann. Aus der Sicht des Kindes Momik wird das Verhältnis zu einem viel älteren traumatisierten Menschen dargestellt. Aus dem Schweigen der Erwachsenen reimt sich Momik seine eigene Interpretation der Dinge zusammen. Gur öffnet eine sehr interessante Diskussion zum Thema „(Un-)Angebrachtheit“, um die sich die Debatte um die gesellschaftliche Vertretbarkeit von künstlerischen Arbeiten über die Shoah seit jeher dreht.

Die Sendungen „Annäherungen an Traumata“ und „Erinnern! Geschichte vertont und erzählt“ wurden am 17. Jänner 2017 und am 14. Jänner 2018 bei Radio Orange 94,0 erstausgestrahlt und sind im Sendungsarchiv unter www.radiostimme.atabrufbar.


[1]Vgl. Milan Kuna (1998): Musik an der Grenze des Lebens. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, S 63ff.

[2]Vgl. Philipp Mittnik (2000). Musik und Bildende Kunst im Konzentrationslager Mauthausen. Wien: Diplomarbeit an der Universität Wien, S. 39f. 

[3]Vgl. Knapp, Gabriele: Das Frauenorchester in Auschwitz. Musikalische Zwangsarbeit und ihre Bewältigung. Hamburg: Bockel Verlag, 1996. S 111ff.

[4]Vgl. Anne-Berenike Rothstein (2015): „Ewig kann’s nicht Winter sein“. Kulturproduktion im Konzentrationslager. In: diess. (Hg.): Poetik des Überlebens. Kulturproduktion im Konzentrationslager. Oldenburg: De Gruyter, S 4ff.

[5]Lisa Fischer (2015): „Komm mit nach Terezín“. Musik in Theresienstadt 1941–45. Wien: Edition MoKKa, S 34.

[6]Vgl. Milan: Musik an der Grenze des Lebens. S 63ff.

[7]Béla Rásky, Verena Pawlowsky (2015) (Hg.): Partituren der Erinnerung / Scores of Commemoration.Der Holocaust in der Musik / The Holocaust in Music. Beiträge zur Holocaustforschung des VWI, Band 1. 

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