“Crip Camp” auf Netflix und 100 Jahre österreichische Behindertenbewegung

Nach welchen Algorithmen Netflix seine Auswahl trifft, ist mir nicht immer ganz klar. Denn das Suchen nach guten Filmen und Serien treibt einen oft in den Wahnsinn. Gerade jetzt, wo man aufgrund von Corona mehr denn je auf dieser Plattform unterwegs ist. Und so sucht man – nachdem die 5. Staffel von „Better Call Saul“ leider zu Ende ist und die 6. erst 2021 kommt – weiter und weiter …

Und dann gab es diesen Glücksfall: mir wurde die Dokumentation Crip Camp – Der Sommer der Krüppelbewegung vorgeschlagen.

So fragte ich mich: weiß Netflix etwa, dass die nächste Ausgabe unserer Zeitschrift Stimme zu „100 Jahre Behindertenbewegung in Österreich“ als 60seitige Sondernummer erscheinen wird? Und weiß Netflix, dass wir im Rahmen unseres Web-Projekts Was wir fordern! Minderheitenbewegungen im 20. und 21. Jahrhundert auch einen Beitrag zur Geschichte der österreichischen Behindertenbewegung auf der Website haben, den der Erziehungswissenschaftler und Behindertenaktivist Volker Schönwiese – mit dem gemeinsam wir auch das Stimme-Heft produzieren – verfasst hat?

Wie auch immer: “Crip Camp – A Disability Revolution“ ist eine beeindruckende Dokumentation über die Entstehung der Behindertenbewegung in den USA, die viele der Selbstbestimmt-Leben-Bewegungen anderswo – so auch die österreichische – inspiriert hat.

Ausgangspunkt des von Michelle und Barack Obama produzierten Filmes ist das später legendär gewordene Camp Jened im Bundesstaat New York, in dem Jugendliche mit unterschiedlichen Behinderungen den Sommer 1973 verbringen. Beeinflusst von der allgemeinen Aufbruchsstimmung der 1960er und 1970er Jahre, werden die Jugendlichen von ihren Betreuer*innen erstmals nicht als pflegebedürftige Menschen behandelt, sondern als eigenständige Personen mit unterschiedlichen Bedürfnissen wahrgenommen. Plötzlich hatte man erkannt, so Judith Heumann – eine der Schlüsselfiguren im landesweiten Kampf um Behindertenrechte (siehe Foto) – dass alle mit den gleichen, insbesondere strukturellen Problemen zu kämpfen hatten. Diese Camp-Erfahrung führte unter anderem dazu, dass sich einige von ihnen maßgeblich an der Organisation eines Meilensteins der amerikanischen Behindertenbewegung, der 504-Sit-Ins, im Jahr 1976 in San Francisco beteiligten, um für die Umsetzung des Abschnitts 504 des Rehabilitation Act zu kämpfen. So auch Jim LeBrecht, einer der beiden „Crip Camp“-Regisseur*innen, und allen voran Judith Heumann, die die Proteste anführte.

Darüber hinaus werden im Film Überschneidungen der Behindertenbewegung mit der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung sichtbar. Lionel JeWoodyard, ein Schwarzer Betreuer aus Alabama, zieht einen Vergleich zwischen seinen eigenen Erfahrungen als Afroamerikaner aus dem Süden und jenen, die er mit den Jugendlichen hatte. Er erzählt, dass die Jugendlichen bei Ausflügen in die Stadt feindseligen Blicken ausgesetzt waren und die Rollstuhlfahrer*innen unter ihnen nicht durch die Tür des Eissalons kamen. „All die Hindernisse, die ich als Schwarzer vor mir hatte, bestanden auch für die Rollstuhlfahrer*innen“, so JeWoodyard. Bei den 504-Sit-Ins gab es zudem Unterstützung der Black Panther Party, die den mehr als 150 Demonstrierenden während ihres 28-tägigen Protests Mahlzeiten organisierte.

Der Film endet mit der Unterzeichnung des Anti-Diskriminierungsgesetz (Americans with Disabilities Act – ADA) am 26. Juli 1990 durch Präsident George Bush, das dieser größten Minderheit in den USA seither barrierefreien Zugang zu Arbeit, Verkehr und öffentlichen Raum überhaupt gewährt. Es wurde wegweisend für die Geschichte der Behindertenbewegung weltweit. „Crip Camp“ erzählt die Ausgangsbedingungen dieser Geschichte.

 


„Crip Camp – A Disability Revolution“, Regie: Nicole Newnham und Jim LeBrecht, Länge: 110 min. © Netflix, 2020

Ein umfassendes Archiv mit Materialien zur österreichischen Behindertenbewgung findet sich auf bidok

Das Web-Projekt Was wir fordern! Minderheitenbewegungen im 20. und 21. Jahrhundert der Initiative Minderheiten versammelt Texte von Aktivist*innen und Expert*innen zu Protestbewegungen von unterschiedlichen Minderheiten in Österreich.

Die Zeitschrift Stimme erscheint anlässlich “100 Jahre Behindertenbewegung” in Kooperation mit Volker Schönwiese und Petra Flieger und bidok im Juli 2020.

Und zurück zu Corona: hier eine wichtige Kampagne von disabletonlive: Hi, wir sind’s. Die #Risikogruppe

Alle Fotos: © Netflix

 

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