Stereotype können Menschen in Bilder sperren (schreibt der Kulturtheoretiker W. J. T. Mitchell). Das selbstorganisierte Zeitschriftenprojekt Crip Magazine setzt den allgegenwärtigen Medienbildern von Opfern vs. Helden, der helfenden Hand und „Licht ins Dunkel“ vielstimmige, selbstbestimmte und humorvolle Bilder von Behinderung und visuellen Aktivismus entgegen. Die Beiträge (großteils von KünstlerInnen mit Behinderung) eröffnen eine ermächtigende Perspektive auf behinderte Verkörperungen und Realitäten. Ein Projekt der bildenden Künstlerin Eva Egermann.
I cannot count the number of times that I have been asked by distant relatives, bank tellers, gas station attendants, or strangers on the street: “What is wrong with you?”; “What happened?” (Alyson Patsavas im Crip Magazine #2)
Als Kind verbrachte ich viel Zeit in Krankenhäusern und Spitälern. Die meiste Zeit davon in einer bestimmten Kinderklinik. Ich erinnere mich an scharenweise Kinder verschiedensten Alters mit unterschiedlichsten Hilfsmitteln – ein Bild, das eher an Science-Fiction erinnerte. Tretend und rollend, Schienen, Klettverschlüsse, Neonfarben oder in Camouflage-Optik. Meine Ledermanschetten.
Ich erinnere mich an meinen langjährigen Brieffreund Tino und meine Zimmernachbarinnen, die sich in einer Geheimsprache verständigten. Ich erinnere mich an den Freizeitklub, die Klinikschule, sich den Bauch halten müssen vor Lachen … Das Bild der freakigen, neonbunten, amorphen Gruppe lachender Cyborg-Kinder, die durch die bayrische Kleinstadt rollen, um in die Pizzeria einzufallen, hat sich in meine Erinnerung eingebrannt.
Natürlich gab es auch Alltägliches oder Situationen, die schmerzhaft waren. Besonders leidvoll wurde es immer dann, wenn Besuch da war. Schlagartig wurde alles todtraurig. Die Wahrnehmung der Nichtbehinderten lag im krassen Widerspruch zu meiner Erfahrung von Crip-Jugendkultur, dem Bild einer Kindercommunity, die eine Multitude an Subjekten, Körperformen, -funktionen, Sprachen, Herkünften und Visualitäten verkörperte. Die Funktion dieser Leidprojektion und Stigmatisierung als gesellschaftliche Mechanismen im Umgang mit Behinderung. Unter anderem die Funktion dieser Leidprojektion und Stigmatisierung als gesellschaftliche Mechanismen im Umgang mit Behinderung ist heute Gegenstand von Diskursen in den Disability Studies und der Crip Theory.
Bilder die wir täglich sehen und uns umgeben bestimmen den Horizont dessen, was wir uns darüber hinaus vorstellen und ausdenken können. Das beschreibt Frederic Jameson mit der Idee des politisch Unbewussten. Das Crip Magazin hat es sich zum Ziel gesetzt diese Begrenzung am Horizont der Vorstellungswelt aufzumachen. Die Beiträge beschäftigen sich mit Crip Popkultur, Kunst und radikalen sozialen Bewegungen, haben Schmerz zum Thema oder eröffnen eine transformative Perspektive auf Body-Issues und körperliche soziale Beziehungen eröffnen. Es geht darum eine andere Praxis zu erproben. Es operiert auf der Ebene der Kunst und der Visuellen Kultur und entwirft eine Visuelle Kultur von Crip Subjekten. Die Perspektive zu ändern, ermöglicht alternative Lesarten und Repräsentationen.
„Es ist kein Ende der Kämpfe in Sicht, weder auf der ökonomischen noch auf der politischen noch auf der kulturellen Ebene“, schreibt Volker Schönwiese in seinem Beitrag. Dementsprechend finden sich auch in der 2ten Ausgabe des Crip Magazins wieder jede Menge Publikumsbeschimpfungen, sei es vom Theater der Aggressionen oder den Kampfassistent_*innen von Pro 21. Im Gespräch mit Petra Fuchs geht es um die Geschichte zweier Frauen, die Pionierinnen im Kampf gegen die Sonderschule waren. Zusammenfassend: Sonderbeschulung gehört endlich abgeschafft! Echt jetzt.
Das Crip Magazine bezieht sich auf die historische Kämpfe und die Geschichte der Behindertenrechtsbewegungen und möchte diese ins Gedächtnis rufen. Dies passiert auf vielfältige Weise mit Texten aber z. B. auch auf künstlerische Weise mittels Überarbeitungen von historischen Dokumenten (wie z. B. die Cover der Zeitschriften „Der Krüppel“, „Neues aus Krankheit“ und der „Krüppelzeitung“). Ein Zitat der Zeitschrift „explosiv“ (einer österreichischen Jugendzeitschrift aus den 80er Jahren) findet sich auf dem Cover.
Und: Utopischen Kosmologien des Gugging-Künstlers Franz Artenjak, gehackte Werbeseiten des Theater Hora, Crip Lesetests der blinden Malerin Brooke Lanier und Beiträge zu Disability Culture als Counterculture von den Behindertenaktivisten Neil Marcus und Petra Kuppers oder des Gründers der Theater der Aggressionen Philmarie und von vielen weiteren. Ein Text über nicht normative Zeitlichkeiten der Queer-Disability-Aktivistin Elisabeth Magdlener. Bilder, die Agency im Blick haben. In.Takt. sein und crip-queeres Aufbegehren, Crip Time als Explosion. Um halb 2 sind wir fertig. Die Zeit soll da bleiben bei mir. Die Zeit muss nicht weg gehen. Denn die Zeit ist hier und die Zukunft Crip.
(Auszug aus dem Editorial von Eva Egermann)
Mit Beiträgen von: Franz Artenjak, Doris Arztmann, Sabian Baumann, Drew Danielle Belsky, Magazin Bunt, Diedrich Diederichsen, Eva Egermann, Petra Fuchs, Roland Gaberz, Bosko Gastager, Kata Hinterlechner, Petra Kuppers, Brooke Lanier, Elisabeth Magdlener, Neil Marcus, Sigi Maron, Lisa Max, Alyson Patsavas, Paula Pfoser, PRO21 Kampfassistenz, Robert Rotifer, Herbert Schinko, Volker Schönwiese, Katherine Sherwood, Philmarie Theatdaggres, Michael Turinsky und Anna Voswinckel
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Präsentationstermine
Wien: 21. Oktober, 20h, Präsentation und Party, Rhiz Wien (im Rahmen von Nil Desperandum, gemeinsam mit MALMOE #80)
Eine Heft-Präsentation wie ein Anfall oder ein Ausbruch, eine Crip-Explosion!
Ab 20h: Präsentation des neuen Ausgabe des Crip Magazine: Eva Egermann gemeinsam mit Doris Arztmann, Elisabeth Magdlener, PRO21 Kampfassistenz und Michael Turinsky.
Weitere Termine
Zürich: Samstag, 4. November 2017: Les Complices
Berlin: Freitag, 10. November 2017:, HAU Berlin (Hebbel am Ufer) im Rahmen des „Take Care“ Festival
Salzburg: Dienstag, 5. Dezember 2017, 10.30 bis 12 Uhr: ARGEkultur, Studio Salzburg, im Rahmen von „Kulturelle Teilhabe in Salzburg“
Bestellmöglichkeit Über die Indie-Publishing Plattform www.indiekator.com sowie ab 21. Oktober digital abrufbar: http://cripmagazine.evaegermann.com
Bildunterschriften
Abb. 1: Eva Egermann, Takes on Crip Magazine Lecture, 2016, Foto: Daniel Jarosch/ Künstlerhaus Büchsenhausen.
Abb. 2: Eva Egermann, Coverdesign Crip Magazine #2 von Anna Voswinckel
Abb. 3: Bunt, Werbeseite Noe, Seite 7 Crip Magazine #2
„BUNT bedient sich des Fakes und parasitären Strategien und lehnt sich an das bekannte deutsche Magazin „die Bunte“ an. (…) Neben gefakten Berichten über Mode, Lifestyle, Styling und Reisen, wurden Werbungen nach Vorbildern wie N’Espresso und Chanel so gehackt, dass Menschen mit Trisomie 21 natürlich in diese alltäglichen visuellen Oberflächen eingebunden sind.“
Abb. 4: Brooke Lanier, „I can not see you, but i know you are staring at me“, Seite 27 Crip Magazine #2
„Brooke Lanier’s Druckserie wurde von Ihren Operationen für die Reparatur einer Netzhautablösung inspiriert. Sie verlor den Großteil ihrer Sehkraft auf dem rechten Auge und verarbeitete die Erfahrung, indem sie handgemalte Sehprobentafeln produzierte, die genau dem Format jener Tafeln entsprechen, mit denen sie ständig getestet wurde.“