Intime Beziehungen zwischen Fremden

Sabine Strasser, Professorin am Institut für Sozialanthropologie an der Universität Bern, hielt sich zwischen März und Juni 2016 im Rahmen eines Sabbaticals an der türkischen Ägäis-Küste auf. Ein halbes Jahr nach dem gewaltsamen Tod des kurdischen Flüchtlingskindes Alan Kurdi – das Symbol für Europas Versagen an der Flüchtlingskrise. Ein Gespräch über Antworten der lokalen Bevölkerung auf das Leid von fremden Reisenden.

Gamze Ongan: Deine Sabbaticalzeit war nicht wirklich eine Auszeit. Du hast zwischen Bodrum und Izmir im Rahmen des Forschungsprojekts Intimate Uncertanties. Precarious Life and Moral Economy across European Borders eine ethnographische Forschung durchgeführt. Dem Projekt liegt der sehr menschliche Wunsch nach einem besseren Leben zugrunde. Etwas, was wir wohl alle kennen. Worum es euch aber geht, ist die Frage, was passiert, wenn Menschen für ein besseres Leben ihr eigenes und das Leben von anderen riskieren. Erzählst du mehr über das Projekt?

Sabine Strasser: Wir stellen uns die Frage, wie Moralität und Politik über Grenzen hinweg verhandelt werden. Zunehmend treffen Menschen in prekären Situationen höchst problematische Entscheidungen, um elementare Bedürfnisse durch intime Begegnungen auf der jeweils anderen Seite der Schengen-Grenze zu erfüllen. Im Fokus des Projekts stehen drei Gruppen von Akteur_innen: Migrant_innen und Flüchtlinge, die trotz der rigiden europäischen Grenzpolitik das Risiko des lebensgefährlichen Grenzübertrittes auf sich nehmen; Patient_innen in Deutschland, deren Suche nach einem gesunden Organ sie auch über die EU-Grenzen hinaus führt; und Eizellenspenderinnen oder Leihmütter in Russland und der Ukraine, die Paaren aus der EU helfen, deren Kinderwunsch zu erfüllen. Es geht also um Fragen von Geburt, Leben und Tod. Die Hoffnungen und Wünsche dieser Menschen sind unterschiedlich, alle sehen sich jedoch gezwungen, ihr Leben und das Leben anderer zu riskieren. Die Forschung wird untersuchen, wie diese „intimen Ungewissheiten“ bedingt und legitimiert werden. Das Projekt möchte einen Beitrag zum derzeit verstärkt diskutierten Bereich der Anthropologie der Moral sowie zu interdisziplinären Debatten über Grenzregime, Leben/Tod, Gefühle und Globalisierung leisten. Diese intimen Beziehungen zwischen Fremden werden für den europäischen Kontext in den folgenden Jahren von steigender Relevanz sein.

Ich weiß, dass noch keine Ergebnisse vorliegen, möchte dich aber trotzdem bitten, über deine Forschung an der Ägäis-Küste zu erzählen. Was war deine konkrete Fragestellung?

Ich wollte beobachten, wie konkret die lokale Bevölkerung antwortet, wenn sie zuschaut, wie Flüchtlinge ihr Leben riskieren, um ein besseres Leben zu erreichen. Bodrum ist die Halbinsel, an deren Küsten Alan Kurdi gefunden wurde, ein Kind aus Kobanê, das beim Versuch nach Griechenland zu kommen mit Bruder und Mutter ertrunken ist und dessen Bild um die Welt ging. Er wurde das Symbol für die Auswirkungen des EU-Grenzregimes, aber auch für ein fragwürdiges Mitgefühl in der westlichen Welt. Was tut das mit den Menschen, die dort leben, welche Antworten finden sie auf eine un/gewollte Verantwortung? Wenn immer mehr kommen und immer mehr Tote zu beklagen sind? Soll oder muss man diesen Menschen helfen, das Risiko unterstützen? Soll man sie versorgen und zuschauen, wie sie auf die Boote gehen. Wenn ja, wird man selber ein Teil eines klandestinen Netzwerks oder gar des kritisierten Grenzregimes? Verantwortung ist das Stichwort. Responsibility im Sinne von Antworten zu geben. Ist man verantwortlich für Menschen auf der Flucht, auch wenn man den Krieg nicht verursacht hat? Ist man für Leid verantwortlich, das weit entfernt passiert? Theoretisch gehen wir dabei vom Anspruch auf eine „globale moralische Verpflichtung“ aus, der von Judith Butler formuliert wurde, und versuchen die politische und moralische Praxis dieser Verantwortung in unseren lokalen und transnationalen Ethnographien zu untersuchen.

Was hast du im März 2016 an den türkischen Küsten vorgefunden?

Als ich in Bodrum ankam, war die Stadt zu meiner Überraschung leer, keine Flüchtlinge weit und breit. Die Hilfsorganisationen haben aber weitergearbeitet. Die türkische Regierung hat an der Ägäis-Küste als erstes Bodrum „zugemacht“, indem die Halbinsel für Schlepper schwerer zugänglich und somit unattraktiv gemacht wurde. Alan Kurdi hatte den Blick der Welt auf Bodrum gelenkt. Die Polizei hörte dort als erstes auf, einfach wegzuschauen, wenn die Menschen zu hunderten am Abend ankamen und die Tage darauf in die Boote stiegen. Die griechische Insel Kos und die türkische Halbinsel Bodrum wollten als touristische Zentren einen Sommer ohne Flüchtlinge haben, da deren Anwesenheit ihre Existenzgrundlage, die TouristInnen vertrieb. Dass die Bombenanschläge und der Putschversuch den Sommer zu einem ökonomischen Desaster machen würden, war Anfang März noch nicht klar. Die Vorbereitungen für die Saison liefen auf Hochtouren. Von der griechisch-türkischen „Feindschaft“ war da nichts zu spüren, Kos und Bodrum haben kooperiert, um gemeinsam die Flüchtlinge abzuhalten.

Welche Hilfsorganisationen bzw. welche Arten der Unterstützung von Flüchtlingen konntest du identifizieren?

Ich habe humanitäre Einrichtungen jeglicher Art und auf allen Ebenen vorgefunden. Ich wollte verstehen, wer mit welchem Gefühl von Verantwortung handelt, wer mit einem Anspruch auf Neutralität hilft, wer Forderungen an die Gesellschaft und an die Institutionen stellt und somit Politik macht. Wer in diesem Kontinuum von charity also Wohltätigkeit und solidarity also politischer Zusammenarbeit wo steht. Diese Unterscheidung wurde anhand der Interventionen von den lokalen Organisationen selbst getroffen und prägt ihre vielschichtigen Positionen und Ziele. Dafür habe ich mitgearbeitet, beobachtet und Interviews mit Helfer_innen und Aktivist_innen aller Art geführt: mit lokalen Organisationen, mit den Ärzt_innen ohne Grenzen, den Medical Corps, mit dem Such- und Rettungsverein Akut und vielen anderen mehr. Neben vielen Einzelinitiativen haben sich in Bodrum zwei wichtige Hilfsorganisationen formiert: Bodrum Humanity und Bodrumlu Kadınlar Derneği. Aber es gab auch viele unabhängige Personen, die sich engagierten, einfache Angestellte genauso wie einflussreiche Unternehmer kochten Suppen und brachten Kleider. Bodrum ist sehr kosmopolitisch und hat einen hohen Ausländer_innenanteil, die Mehrheit davon sind Engländer_innen, die ein stark ausgeprägtes Verständnis für Charity haben. Diese Charity-Kultur haben sie auch in Bodrum aufgebaut, unter dem Namen Bodrum Humanity. Motto: „Wir helfen überall, wo Menschen Hilfe brauchen.“ Ihr Ziel ist nicht in erster Linie die politische Veränderung der Gesellschaft durch Opposition zur herrschenden Politik und gesellschaftliche Transformation, sondern well-being, ein gutes Leben für alle durch humanitäre Hilfe. Die Linken und Feministinnen in Bodrum grenzen sich von Charity ab und sprechen von Solidarität und Freiwilligenarbeit. Das Motto von Bodrumlu Kadınlar Derneği ist: „Wir tun es für uns alle mit den betroffenen Menschen. Es kann uns ja genauso treffen. Es geht uns alle an. Wir tun es, um unser Land zu verändern.“ Für sie ist die Unterstützung der Vertriebenen, die aufgrund der wieder ausgebrochenen Kampfhandlungen zwischen türkischem Militär und bewaffneten Kurd_innen ihr Hab und Gut verloren haben, genauso wichtig und führte zu regelmäßigen Hilfstransporten in den Osten. Im Zentrum ihrer Interventionen stehen aber die sexuelle und körperliche Gewalt, die Frauen als Flüchtlinge erleben. Allen gemeinsam ist die Freiwilligkeit – gönüllü auf Türkisch. Freiwilligkeit sorgt für Stolz und Würde, sie ist, was zählt und was Wert hat: sich für Veränderung einzusetzen, ohne daran etwas zu verdienen.

Dann gibt es noch Halkların Köprüsü, die Hilfsorganisation in Izmir, die vor kurzem mit dem internationalen Hrant-Dink-Preis ausgezeichnet wurde. Was ist das besondere an dieser Organisation?

Halkların Köprüsü ist eine sehr heterogene Organisation. Sie besteht aus Studierenden, Hausfrauen, Pensionist_innen und Berufstätigen, die über die gemeinsame Praxis zusammengewachsen sind. Die Organisation ist sehr aktiv und attraktiv, weil sie Zugehörigkeit schafft. Es geht darum, Beziehungen auszubauen, Nähe zu schaffen, Raum zu teilen. Eine der Freiwilligen hat mir einmal ihr Verständnis von Solidarität in etwa so erklärt: „Wenn du ihre Wohnungen kennst, sie in den Armen hältst, die Ratten und Skorpione in ihren Räumen nicht mehr fürchtest, dann hast du etwas verstanden. Stell dir vor, du läufst mit fünf Jahren auf den Berg hoch und oben bemerkst du, dass du das Brot vergessen hast und du musst noch mal runter und wieder rauf, alles zu Fuß. Geh das selbst, dann hast du was begriffen!“ Ihre Haltungen gegenüber Journalist_innen, Wissenschaftler_innen und humanitären Einrichtungen werden an diesen Grundsätzen gemessen, auch diese müssen diesen Kriterien folgend ihre Einstellungen unter Beweis stellen.  Die Kritik am Staat kombinieren sie mit eigenem Handeln. Sie schicken Berichte über die Aktivitäten und Missstände an die Ministerien, um zu zeigen, was sie alles an Notwendigem abdecken: „Wir übernehmen das alles, obwohl wir nicht der Staat sind, aber wir tun es, weil es jetzt notwendig ist.“ Sie gehen auch mit regelmäßigen Pressekonferenzen an die Öffentlichkeit. Und sie strotzen vor Selbstbewusstsein, weil sie, wie sie es selbst formulieren, das Richtige tun. Halkların Köprüsü interveniert in der Tat überall dort, wo der Staat versagt. Sie kümmern sich auch um die Flüchtlinge, die aus Griechenland zurückgeschickt werden, genauso wie um KurdInnen in Sur und Cizre.

Unabhängig davon, dass die Türkei derzeit auf Kosten von flüchtenden Menschen versucht, ihre Interessen gegen Europa durchzusetzen –  was macht der Staat für die Flüchtlinge?

Der türkische Staat hat vorerst großartiges geleistet, indem er fast drei Millionen Menschen aufgenommen hat. Jeder registrierte Flüchtling aus Syrien hat das Recht, eine Wohnung zu mieten, zu arbeiten und auf medizinische Versorgung. Diese Regelung betrifft jedoch nicht die Flüchtlinge aus den anderen Ländern, was mit der geographischen Limitierung im Asylrecht zu tun hat und dem Gästestatus, der den SyrerInnen vorübergehend zugestanden wurde. Mithilfe der EU gibt es im Rahmen des Deals jetzt auch finanzielle Unterstützung. Wem diese zuteil wird muss sich aber erst herausstellen. Die staatliche Strukturierung des Flüchtlingswesens passiert über Göçmen Idareleri, die Büros im ganzen Land betreiben. Diese können aber nicht viel ausrichten, weil sie neu sind und nach Erzählungen der NGOs vor allem zu wenig Wissen über die Praxis der Flüchtlingsarbeit haben. Sie verlassen sich derzeit eher noch auf ASAM – Association for Solidarity with Asylum Seekers and Migrants, der türkische Partner der UNHCR. ASAM kümmert sich um soziale Anliegen, Arbeit, Aufenthalt, und Familienzusammenführung. Sie waren während des letzten Jahres an der Ägäis in Rettung und Versorgung involviert und wurden in der Zeit enorm ausgebaut. Sie haben jetzt auch ein Büro in Bodrum.

Existiert eine Art Zusammenarbeit zwischen den Akteurinnen?

Auf jeden Fall. Diese Woche sind in Bodrum 150 Flüchtlinge eingesperrt worden, weil sie beim Versuch, nach Griechenland zu fliehen, aufgegriffen worden sind. Die Polizei fragt Bodrum Humanity an, ob sie die inhaftierten Flüchtlinge mit Essen versorgen können. Andererseits wissen die Schlepper genauso, dass sie die Hilfsorganisationen nutzen können, sprich: In Bodrum muss ich die Flüchtlinge nicht versorgen, dort wird eh Hilfe organisiert. ASAM ist etwa ein wichtiges Bindeglied in der Versorgungskette. Sie akzeptiert die Charity-Hilfe und arbeitet auch mit dem Staat zusammen. Akut kooperiert mit der Küstenwache. Viele Akteur_innen der kleinen Organisationen kennen einander und arbeiten eng zusammen.

Was sagen die Hilfsorganisationen über den Flüchtlingsdeal? Gibt es dazu divergierende Meinungen?

Alle lokalen Hilfsorganisationen, mit denen ich Kontakt hatte, äußern sich einhellig über diesen EU-Türkei Deal: Die EU hat aus der Türkei ein „open air prison“ gemacht. Die ganze Welt ist schuld am Krieg, aber Europa ist schuld am Tod der Menschen. Und dieser Deal wird nicht funktionieren, weil man die Menschen nicht aufhalten kann. Sie glauben auch nicht daran, dass die Visafreiheit für türkische Staatsbürger_innen irgendwann gewährt wird.

Was tun die Hilfsorganisationen jetzt, wo es keine Flüchtlinge mehr gibt? Werden die Strukturen aufrechterhalten?

Von Juni 2015 bis Februar 2016, als täglich tausende Menschen an der Ägäis-Küste ankamen, um von Izmir, Ayvalik oder Bodrum in Boote zu steigen, wurde vor allem Hilfe für Durchgehende organisiert. Gefragt war die Erstversorgung. Erste Hilfe Pakete für Dehydrierte, Wasser, Kekse, Kleider… Dann wurden aber die Hauptrouten vom Landesinneren zu den Küsten militärisch bewacht, das Durchkommen wurde sehr schwierig. Seither sind die Aufgaben verschoben. Die Organisationen kümmern sich um die Bedürftigen, die eine Überfahrt nicht bezahlen konnten oder es nicht geschafft haben. In Bodrum leben aktuell 15 Flüchtlingsfamilien und einige nicht registrierte Männer, in Izmir geschätzte 100.000 Menschen. Das ist allerdings wirklich schwer zu schätzen, weil nach wie vor nicht alle registriert sind und andere wieder weiterziehen. Es wird Bekleidung organisiert, Essen, Lebensmittel, medizinische Versorgung, Türkischkurse werden angeboten. Aber vor allem wird Aufmerksamkeit und Fürsorge gegeben. Das Engagement ist trotz der vielen Unterschiede in den Organisationen in allen nach wie vor enorm.

https://intimateuncertainties.wordpress.com

 

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