Die Schande Europas – Zur Lage behinderter Menschen in Osteuropa.

Nothing about us without us!

Im europäischen Wendejahr brach nicht nur der Reale Sozialismus zusammen; im selben Jahr wurde auch das European Network on Independent Living (ENIL) gegründet – der europäische Ableger der weltweiten autonomen Behindertenbewegung (Independent Living Movement), die Ende der 60er Jahre von Kalifornien ihren Ausgang genommen hatte und sich dann in mehreren Wellen bis Europa ausbreitete. Zentrales Anliegen war und ist das Ende der Segregation in allen gesellschaftlichen Bereichen und die Selbstermächtigung der behinderten Menschen in Politik und Gesellschaft (Expertentum in eigener Sache). Die Schleifung und Auflassung von Großheimen (De-Institutionalisierung) wird auch von der 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention gefordert, die mittlerweile von 177 Staaten ratifiziert wurde und als völkerrechtlicher Überbau der Independent Living Bewegung anzusehen ist. In unabhängigen Monitoringausschüssen wird alle paar Jahre die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention in den Unterzeichnerstaaten kontrolliert. Die Berichte werden von den Regierungen gefürchtet, stellen sie doch mitunter vernichtende Zeugnisse aus. Dies gilt für westeuropäische Staaten wie Österreich (Ausbau statt Abbau von Sonderschulen und Heimen, unbezahlte Sklavenarbeit von behinderten Menschen in den Heimen, kein funktionierendes Antidiskriminierungsgesetz, kaum Fortschritt bei der Barrierefreiheit, Arbeitslosigkeit von behinderten Menschen bei fünfzig Prozent, keine wirksame politische Vertretung im Parlament). Wie steht es aber um behinderten Menschen in Osteuropa?

In Rumänien erlangte das Behindertenheim Cighid kurz nach dem Sturz von Ceaușescu weltweites Aufsehen: Journalisten fanden dort – ebenso wie in anderen rumänischen Anstalten – Kinder mit unterschiedlichsten Behinderungen. Internationale Medien veröffentlichten grauenhafte Bilder. Der sogenannte Isolator beispielsweise war ein Verschlag mit vernagelten Fenstern, in dem siebzehn Kleinkinder gehalten wurden. In der Dunkelheit des Raumes mussten die Journalisten am Geruch erkennen, ob es sich um Brei, Kot oder Erbrochenes handelt. Schaufelweise habe man damals Exkremente aus dem Haus getragen. 1990 wurde der angesehene Kinderarzt Pavel Oarcea beauftragt, sich um das Heim zu kümmern. Er weigerte sich, die Schuld für die Zustände allein dem System zuzuschreiben. Die Aussage der Beschäftigten Schuld hätten “die da oben, die Befehle erteilen”, ließ er nicht gelten. “Ceausescu hat hier nicht gearbeitet”, sagte er. Als Rumänien 2007 der EU beitrat, versprach die Regierung die eugenische Politik gegenüber den Schwächsten abzustellen. Hoffnung keimte auf, daß sich das Leben der aus der Öffentlichkeit Verbannten, die extreme Vernachlässigung und exzessive Gewalt erlebten, zum Menschlichen wenden möge.

Sieben Jahre später strahlte der Fernsehsender Al Jazheera eine schockierende Dokumentation Europe’s Hidden Shame aus. In den Heimen hatte sich nichts geändert, allerdings geschahen die Menschenrechtsverletzungen nun unter den Augen der EU, die diese Zustände noch mit beträchtlichen Fördermitteln über ihren Sozialfonds und andere Fördertöpfe unterstützte. Das bei der EU-Kommission angesiedelte Europäische Behindertenforum kritisierte die Massentierhaltung von behinderten Menschen, das war’s dann aber auch. Die verantwortlichen Minister in Bukarest versprachen Besserung, die EU-Kommission ließ sich zur Aussage herab, man wolle die Sache mit angemessener Aufmerksamkeit behandeln.

Im Jahr 2019 tauchten wieder Beweise für die systematische Vernachlässigung und den Missbrauch von behinderten Menschen in Rumänien auf. Der Fernsehsender schickte ein Team aus drei englischen Spezialisten und Journalisten. Sie produzierten die Dokumentation Europe’s Recurring Shame und wiesen nach, daß sich nur insofern etwas geändert hatte, als die Heimfassaden modernisiert, die Zustände im Inneren aber unverändert waren – angekettete Kinder in Verschlägen. Diese waren nun aus Plexiglas. Und die Förderungen der EU aus dem Titel “Inklusion” flossen munter weiter.

Wer nun glaubt, daß die Horrorzustände eine rumänische Spezialität sind, dem entgegneten die Autoren, in ganz Osteuropa seien die Verhältnisse ähnlich.

Sie übertreiben nicht.

“Ein Bursch in einem Bett mit hohen Gitterstäben aus Eisen; ein anderer Bub in einer selbst gemachten Zwangsjacke; eine 20-Jährige in einem winzigen Gitterbett; ein Teenager mit abgemagerten Beinen; Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit offenen, unbehandelten Wunden im Gesicht und an den Extremitäten”: Die Beschreibungen entstammen einem Bericht der NGO Mental Disability Advocacy Centre, die das Behindertenheim Topház in Göd bei Budapest, das 1977 in einer ehemaligen Burg eingerichtet wurde, visitierte. Der österreichische Journalist Gregor Mayer berichtete darüber im am 4. Mai 2017 in der Tageszeitung Der Standard.

Das Ermittlerteam habe Folter und Misshandlung von Patienten festgestellt, hieß es. “Die 220 Menschen in Topház sowie zehntausende Kinder und Erwachsene in anderen ungarischen Heimen für Behinderte werden weiterhin weggesperrt, um sie den Blicken der Öffentlichkeit zu entziehen.” Auch der 2018 erstellte ENIL-Report kam zu gleichlautenden Ergebnissen.

Nach wie vor werden intellektuell beeinträchtigte Menschen nicht in kleineren Einheiten oder Projekten des betreuten Wohnens untergebracht, sondern von der Gesellschaft abgesondert. Der Menschenrechtskommissar des Europarats empfahl, keine EU-Gelder mehr für die Renovierung der Anstalten aufzuwenden. Die Konsequenzen für Ungarn? Die EU-Förderungen für Inklusion wurden erhöht – Ungarn errichtet derzeit mehrere Dutzend Heime fernab von Städten und Dörfern in Sümpfen, Industriebrachen, Überschwemmungsgebieten oder neben Müllverbrennungen. Sehr oft entstehen die neuen Heime auch neben den alten Kästen auf deren Gelände. Das Gegenteil von den von der UN-Behindertenkonvention 2008 geforderten betreuten Wohngemeinschaften und Einzelwohnungen in den Städten. Behinderte Menschen genießen in diesen Einrichtungen keinerlei Unabhängigkeit, was Wohnen, Essen, Freizeit, Arbeit und die anderen Sphären des Lebens anlangt. Die Verwendung riesiger Summen öffentlichen EU-Geldes für die Verstetigung von Aussonderung und Missbrauch wird in den Berichten immer wieder angeprangert. Was mit den behinderten Menschen in den entlegenen Ghettos geschieht, kann man sich unschwer ausmalen. Gleichzeitig wurde die Tätigkeit von NGO´s, die auch nur einen Cent ausländisches Geld erhalten, in Ungarn verboten. Anklagende Berichte wird es in dem Land, das keine regierungsunabhängigen Medien mehr kennt, nicht mehr geben.

Im nordungarischen Szilvásvárad wollten FIDESZ-Abgeordnete die Ansiedlung von Behinderten in betreuten Wohneinrichtungen verhindern, “weil die normalen Bürger” das so wollten und es “nicht gut aussieht”. Die behinderten Menschen sollten in eine heruntergekommene Einsiedelei verbannt werden, wohin man zuvor schon die Roma der Stadt abgeschoben hatte. Nach Protesten erfolgte eine halbherzige Korrektur und der Bürgermeister stellte sich gemeinsam mit “dekorativen Behinderten” (Pester Lloyd) den Kameras.

Im Mai 2016 untersuchte der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments die Slowakei und kam zum Ergebnis, daß die von der UN-Konvention geforderte Auflösung von Großheimen und die “Entlassung” behinderter Menschen in eine (von Assistenz unterstützte) Selbstbestimmung und Unabhängigkeit nicht befolgt wird.

In Russland leben mindestens zwölf Millionen Menschen mit Behinderung, man begegnet ihnen selten auf der Straße, erzählt Marina Borissenkowa, eine Aktivistin aus dem Gebiet Pskow. Wohnungen sind nicht angepasst, es ist vielen nicht möglich, sie zu verlassen. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen leben überwiegend in geschlossenen Einrichtungen. Inklusive Kindergärten und Schulen sind wie die politische Selbstvertretung sehr seltene Ausnahmen. (Deutsche Welle 31 3. 2019)

Die Wissenschaftlerin Marina Doichinova aus Bulgarien hält in einem Report der EU-Agency for fundamental Rights fest, daß von einem selbstbestimmten Leben in Bulgarien keine Rede sein kann. Heimstrukturen verfestigen sich, bauliche Barrieren werden nicht abgebaut, auch sonst werden die Grundsätze einer modernen Behindertenpolitik nicht annähernd befolgt. (Case study report: Bulgaria 2018)

Daß Ausgrenzung und Gewalt sich selbst in den wenigen Fällen reproduzieren, in denen “family type homes” Großheimstrukturen ersetzen, dokumentiert der ENIL-Aktivist Constantin Cojocariu im September 2015. In einer derartigen Einrichtung in Bukarest beobachteten Nachbarn, daß ein behinderter Bub bei praller Sonne viele Stunden im Freien angekettet wurde. Nachforschungen ergaben, daß es sich um keinen Einzelfall handelte. Daß es keine Therapien und Fördermaßnahmen für die Kinder gab, ergänzt das Bild. Die NGO “Hope and Homes for Children Romania (HHC Romania)” und staatliche Behörden sind für diese Zustände verantwortlich.

Für Tschechien, Kroatien, Serbien, Moldawien, die Ukraine und die anderen ehemaligen jugoslawischen Teilstaaten sowie für die baltischen und zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken trifft dasselbe zu. Von selbstbestimmten Lebensverhältnissen sind die behinderten Menschen weit entfernt, Aussonderung, Vernachlässigung und Gewalt sind die Regel. Dazu kommt – bei den EU-Staaten – der Missbrauch von EU-Mitteln. Die Monitoring-Berichte fallen durchgängig katastrophal aus.

Die behinderten Menschen Osteuropas, deren Zahl mit drei Dutzend Millionen nicht zu gering geschätzt ist, sind die Parias Europas, Opfer von eugenischer und rassistischer Politik. Was nach dem sozialen Tod mit behinderten Menschen in dieser Welt geschieht, wissen wir aus der Geschichte. Der Kampf gegen Tierleid und für Klimaschutz ist zu Recht zivilisatorischer Standard. Er steht aber solange im Geruch des Unrechts, solange er das Schweigen über so viele Untaten gegen wehrlose Menschen einschließt.


Erwin Riess ist Schriftsteller, Publizist, Aktivist der Selbstbestimmt Leben Bewegung behinderter Menschen und langjähriges Vorstandsmitglied der Initiative Minderheiten.

Der Text erschien in der Aprilausgabe 2020 in der Zeitschrift konkret.


Foto: SELBSTBESTIMMUNG! GERADE JETZT! Plattform behinderter, chronisch kranker und alter Menschen, © Tiam Grundstein

Die aufgrund der gegenwärtigen Situation der Covid-19-Pandemie von Dorothea Brożek gemeinsam mit einer Gruppe von Aktivistinnen und engagierten Personen gegründeten Plattform, fordert die aktive Einbeziehung von behindertern, chronisch kranken und alten Menschen in den Covid-19-Beratungsprozess der Bundesregierung. Informationen zur Plattform und zur in diesem Zusammenhang erstellten Petition finden sich unter anderem auf facebook, sowie auf der Website von bizeps.

Bitte unterzeichen Sie hier die Petition!

 

 

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