Lockdown-Lektüre

Primo Levi: Ist das ein Mensch?/Die Atempause (Carl Hanser: München, 3. Auflage 2018)

Robert Walser: Basta! (1917; Ausgabe: Helms, Hans G.: Robert Walser. Basta. Prosastücke aus dem Stehkragenproletariat. Köln / Berlin: Kiepenheuer & Witsch (pocket 12) 1970)

Es gibt Texte, die kann man nicht nur mehrmals lesen: Man liest sie einfach mehrmals, weil sie einem bei jedem neuen Lesen neue Facetten an Einsicht und Erkenntnis eröffnen. Zu diesen Büchern gehört definitiv Primo Levis 2018 in seiner dritten Auflage im Münchner Carl Hanser Verlag erschienener Doppelband „Ist das ein Mensch?/ Die Atempause“. Auf 615 Seiten inklusive Nachwort zur deutschen Ausgabe der im Original italienischen Texte und ausführlichem dokumentarisch-wissenschaftlichem Anhang erzählt der Band Primo Levis Erfahrungen in dem Auschwitz angegliederten Arbeits- und Vernichtungslager Buna. Als italienischer Jude und Mitglied einer Partisanengruppe war er als Fünfundzwanzigjähriger 1944 in den norditalienischen Alpen aufgegriffen und gemeinsam mit 650 anderen nach Auschwitz/Buna deportiert worden. Mit zweien davon kehrt er rund eineinhalb Jahre später als einzige Überlebende nach Italien zurück. Hinter ihm liegen nicht nur die ent-menschlichenden Erfahrungen im Lager Buna sondern auch die odysseehaften Umstände seiner Rückkehr, die ihn erst über Umwege durch Weißrussland und die Ukraine schließlich mit einem italienischen Heimkehrertransport durch Rumänien, Ungarn, Österreich und Oberbayern 20 Monate nach seiner Deportation Italien erreichen lässt. In der reflektierenden und verdichtenden Rückschau schrieb er 1947 seine Erfahrungen im KZ und jene der etappenweisen Rückkehr nieder; unter dem das Erlebte interpretierend und pointierend zusammenfassenden Titel  „Ist das ein Mensch?“  (Erfahrungen im KZ) und „Die Atempause“ (Rückkehr über Weißrussland und die Ukraine). Vierzig Jahre nach der Niederschrift nahm sich Primo Levi 1987 im Alter von 68 Jahren das Leben.

In seinen beiden Texten zeichnet er sich aus als scharfer, seziermesserartig analysierender Beobachter menschlichen Verhaltens in Extremsituationen. In dem Kapitel „Die Untergegangenen und die Geretteten“ schildert  er mit erbarmungsloser Sachlichkeit die Realität menschlicher Überlebensstrategien. Als das wirklich Beklemmende der Lektüre erweist sich aber keineswegs der schonungslose Realismus der Schilderung sondern die erschütternde und beängstigende Erkenntnis, wie stark die systemischen Strukturen, die Verhaltensmuster derer, die über andere in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten herrschten, und die die Verhaltensmuster derer bestimmten, die von ihnen beherrscht wurden, in den Alltagsstrukturen unserer aller Gegenwart isolierbar sind – eine Einsicht, die allerdings vermutlich von vielen Überlebenden als eine verharmlosende Relativierung ihrer ent-menschlichenden Shoa-Erfahrung brüsk von sich gewiesen werden würde.

Einen zentralen Aspekt jener (systemischen) Verhaltensstrukturen bildet der Schweizer Autor Robert Walser in seinem kurzen, exakt dreißig Jahre älteren Text „Basta!“ ab: die willfährige Unterwürfigkeit des Einzelnen.  Auf wenigen Seiten zeichnet der fiktive Text das Bild des „guten Bürgers“, des „guten“ Staatsbürgers, der deshalb „gut“ ist, weil er lieber ein „ruhiges Bier“ trinkt und das Denken – gerne – alle denen überlässt, die den Staat lenken, – denn Denken verursacht dem „guten“ Bürger„ Kopfweh“.

Eine gleichermaßen erhellende wie beklemmende und auf jeden Fall zu tiefst empfehlenswerte Lektüre auch dies!

 

© Veronika Bernard 2020

 

 

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