Wer im Karmeliterviertel im zweiten Wiener Gemeindebezirk wohnt, kennt das Haus Malzgasse 16. Hier gehen Mitglieder der jüdisch-orthodoxen Gemeinde ein und aus, vor dem Haus steht ein Metallmast mit einem leuchtenden Davidstern – eine Leuchtstele des Künstlers Lukas Maria Kaufmann. Die Malzgasse 16 ist ein Ort jüdisch-orthodoxen Glaubens und der jüdisch-orthodoxen Bildung. An dieser Adresse befindet sich ein Kindergarten für Mädchen und Buben sowie eine Volks- und Neue Mittelschule für Buben. Beide Einrichtungen werden vom Israelitischen Tempel- und Schulverein Machsike Hadass geleitet. Schon ab den 1870er Jahren beherbergte diese Adresse eine Talmud-Thora-Vereinsschule. Sie existierte bis 1938.
Ein historischer Fund bewegt Menschen und Erinnerung
Im Februar 2018 werden im Haus Malzgasse 16 vom Schulverein mehr durch Zufall Kellerräume entdeckt, die vollständig mit Abbruchmaterial aufgeschüttet sind. Der Aushub bringt einzigartige Fundstücke zu Tage, Fundstücke, die auf die Geschichte des Hauses vor 1938 verweisen. Im Schutt befinden sich Gegenstände aus der bis 1938 existenten Talmud-Thora-Schule und der dazugehörenden Synagoge sowie aus dem ebenfalls an dieser Adresse bis 1938 untergebrachten ersten Jüdischen Museums in Wien – dem ersten Jüdischen Museum der Welt. Die Funde lösen bei den Verantwortlichen des Schulvereins eine Beschäftigung mit der eigenen Geschichte aus; im Moment der Freilegung der vergessenen Räume und Gegenstände wird auch die „verschüttete“ Geschichte des Ortes wieder hervorgeholt.
Eine Ausstellung als Initialprojekt für ein „Erinnern für die Zukunft“
Im November 2019 werden die Funde aus der Malzgasse 16 erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Ausstellung Nicht mehr verschüttet. Jüdisch-österreichische Geschichte in der Wiener Malzgasse im Haus der Geschichte Österreich wird dank Förderungen des Nationalfonds, des Zukunftsfonds, der Stadt Wien und des Bundesdenkmalamtes, vor allem aber auch dank dem Engagement des Schulvereins und seines unermüdlichen Generalsekretärs Arieh Bauer möglich. Die Gegenstände aus den Kellerräumen der Malzgasse 16 liegen in einer raumgreifenden weißen Vitrine im ersten Stock der neuen Burg auf dem sogenannten Alma-Rosé-Plateau – das ist jene Fläche, die dem berühmten „Balkon“, auf dem Adolf Hitler am 15. März 1938 der jubelnden Menge den „Anschluss“ verkündete, inneliegt. Bei der Eröffnung der Ausstellung waren viele Mitglieder der jüdisch-orthodoxen Gemeinde und der Israelitischen Kultusgemeinde anwesend. Am Ende der Veranstaltung sang der Kantor der Gemeinde, Israel Erlich, das Gebet El Male Rachamim. „Ein besonderes Ereignis“, wie er später sagt, denn er betete an jenem Ort, an dem das „größte Übel der Welt begann, nicht weit von dem Ort, an dem mein Großvater gefoltert und gedemütigt wurde.“
Die Ausstellung erzählt anhand der Funde von den unterschiedlichen Nutzungen des Gebäudes, von der Geschichte der Talmud-Tora-Schule, der Synagoge und des Jüdischen Museums bis 1938. Nur wenige Fundstücke sind unbedschädigt, die meisten sind angeschlagen, zerbrochen, angesengt, verkohlt. Als Einzelobjekte und in ihrer Gesamtheit verweisen die Fundstücke auf nationalsozialistische Verfolgung und Zerstörung. Denn im Zuge des Novemberpogroms verwüsteten NationalsozialistInnen die Schule und die Synagoge und steckten sie in Brand. Im Frühjahr 1939 hatte die Israelitische Kultusgemeinde auf Order der NS-Machthaber das Gebäude für ein Alters- und Siechenheim herzurichten. Der Schutt wurde in den Keller des Hauses verbracht, der anschließend zugemauert wurde. Aus den Schulklassen wurden nun Krankenzimmer, aus den Resten der zerstörten Synagoge ein Untersuchungsraum. Im Jahr 1942 erhielt das Gebäude eine neue Funktion: Von Juni bis Oktober befand sich an dieser Adresse ein sogenanntes Sammellager. Tausende Menschen mussten hier die letzten Stunden bis zu ihrer Deportation auf engstem Raum verbringen. Die Malzgasse 16 wurde so unfreiwillig zu einem Ort im Vorfeld der NS-Massenverbrechen. Ab November 1942, nach dem Ende der großen Deportationen aus Wien, diente das Haus als Spital der IKG bis nach Kriegsende.
Die Ausstellung endet jedoch nicht mit 1945, ganz im Gegenteil: Mit Fotografien und Dokumenten wird die Geschichte der Wiederbegründung des Schulvereins und der Schule erzählt und somit von der Entwicklung und dem Selbstverständnis einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde im Wien in den Jahrzehnten nach 1945. In den 1970er Jahren erhielt die Schule wieder ihr Öffentlichkeitsrecht, immer wieder wurden bauliche Erweiterungen aufgrund steigender Schülerzahlen vorgenommen. Nur die Synagoge ist nicht mehr in Verwendung, sie dient heute als Turnsaal.
Die Zukunft der Erinnerung
Die Ausstellung zeigt keine endgültigen Recherchen, vielmehr ist sie eine Art Baustein in einem vielschichtigen Projekt und möchte den Schulverein in seinen Zielen für die Zukunft unterstützen: der Wiederherstellung der Talmud-Thora-Synagoge und die Errichtung einer Gedenkstätte mit Ausstellungsräumen. Dadurch würde jüdisch-orthodoxe Geschichte und jüdisch-orthodoxes Leben in der Stadt sichtbarer und würde die Malzgasse zu einem Ort lebendiger Erinnerung, der Begegnung und des Austauschs. Ob dies gelingen kann, hängt in erster Linie von den Verantwortlichen der Stadt Wien und des Bundes ab. An der Gesprächs- und Kooperationsbereitschaft des Schulvereins mangelt es nicht.
Birgit Johler, Studium der Volkskunde/Europäischen Ethnologie und Romanistik in Wien, als Kuratorin und Kulturwissenschafterin tätig, u.a. für das Jüdische Museum Wien, Volkskundemuseum Wien, die neue österreichische Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz Birkenau und zuletzt für das Haus der Geschichte Österreich. Seit 2019 ist sie Kuratorin im Volkskundemuseum in Graz.
Die Ausstellung ist noch bis 6. Jänner 2021 im Haus der Geschichte Österreich zu sehen.
Öffnungszeiten und Vermittlungsprogramm unter hdgoe
Fotos: © Birgit Johler