Zwei Fotos. Auf den ersten Blick verbindet sie nicht mehr als ihr Urheber, der österreichische Fotograf Harry Weber (1921-2007). Das eine, bei Tageslicht aufgenommen, zeigt fünf Personen in einem Innenraum einer heruntergekommenen Wohnung. Die dominanten Sehgewohnheiten legen nahe, dass es sich dabei um eine Familie handelt: Vater, Mutter und die drei Kinder. Von den Wänden bröckelt der Verputz ab, auch der Fußboden weist starke Gebrauchsspuren auf. Das Foto eröffnet den Blick in eine Wohnung von Menschen, die nicht viel ihr eigen nennen können. Die fünf Personen posieren für die Kamera: Die Frau, hübsch angezogen, ist mit den Kindern als eine Einheit am Rande des Bettes positioniert, mit Blick Richtung Kamera, während der Mann auf dem Bett ausgestreckt liegt und eine Zeitschrift in der Hand hält, die sein Gesicht verdeckt – als ob er sein Gesicht und somit seine Identität vor dem Auge der Kamera schützen wolle. Er ist seltsam entrückt von den anderen Personen und vom fotografischen Geschehen. Und doch in Pose mit patriarchalem Gestus, das Bett einnehmend. Die Fotografie ist mit dem irritierenden Titel versehen: „Planquadrat. Kontrollbesuch der Polizei in einem Gastarbeiterquartier“. Datiert „um 1975“.
Das andere, das zweite Foto, ist im Außenraum bei Dunkelheit aufgenommen. Zu sehen ist ein Mann, der dabei ist, einen Koffer in einen weißen Bus einzuladen. Gleich wird ihm ein weiterer folgen, der hinter ihm mit einem, großen weißen Bündel in der rechten Hand wartet. Neben ihnen und um sie herum stehen weitere Männer, teilweise uniformiert, das Prozedere beobachtend oder überwachend. Auf der hinteren Bank des Busses haben bereits zwei Männer Platz genommen, bereit für die Abfahrt.
Während das erste Foto bei genauerer Betrachtung den Eindruck einer wohldurchdachten Inszenierung für die Kamera erweckt, stellt die zweite Aufnahme das Produkt der Dokumentation eines unmittelbaren Geschehens dar, das sich vor der Kamera abspielt. Es ist Teil einer Bildserie von 23 Aufnahmen, die mit dem Titel „Planquadrat Polizei Wien 1974“ versehen wurde. Die Serie enthält weitere Aufnahmen der zwei Männer, aber auch von anderen, die aus dem Haus in der Rueppgasse 37 im zweiten Wiener Gemeindebezirk kommen und offensichtlich mitgehen müssen, weil sie nicht die richtigen Papiere vorweisen können. Andere Bewohner_innen des Hauses – Männer, Frauen und Kinder – lehnen sich aus den hellerleuchteten Fenstern ihrer Wohnungen und beobachten das Geschehen. Einige wenige lächeln und wenden sich direkt der Kamera zu, andere verdecken ihr Gesicht mit beiden Händen, so als ob sie sich vor den hellen Schweinwerfern, die auf das Haus zielen, oder den neugierigen Blicken der vor Ort anwesenden Journalist_innen schützen wollten. Harry Weber ist nicht der einzige, der mit der Kamera vor Ort war. Weitere Recherchen haben ergeben, dass sich das Ereignis in der Nacht vom 30. August auf den 31. August 1974 kurz vor Mitternacht im Zuge einer großangelegten Razzia der Wiener Polizei im Zweiten Bezirk zugetragen hat. Zwei Fotografien von Harry Webers Bildserie wurden in der Österreich-Ausgabe der Zeitschrift Stern, für die Weber zum damaligen Zeitpunkt arbeitete, für eine Reportage zur Razzia verwendet.[1] Das Haus in der Rueppgasse 37 machte ein paar Wochen später erneut in den Medien als „Elendsquartier für Gastarbeiter“ Schlagzeilen.
Zu Beginn der 1970er Jahre rückten sogenannte Elendsquartiere in den Fokus medialer, politischer und sicherheitspolizeilicher Diskurse und Maßnahmen. Sie bildeten einen zentralen Bestandteil eines sich herausbildenden Problem-Diskurses über Migration. Als Folge davon wurden einerseits verstärkte Sanktionen gegen Hausbesitzer_innen gefordert, die durch die Vermietung von überteuerten, überbelegten Wohnungen und Zimmern mit zum Teil katastrophalen, sanitären Bedingungen profitierten. Andererseits rückten die Quartiere zunehmend ins Visier sicherheitspolizeilicher Kontrollen, um neben der Feststellung etwaiger Missstände in der Quartiersfrage vor allem jene Migrant_innen zu „fassen“, die ohne geregelte Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis in Österreich lebten. Für das Jahr 1974 hatten sich die Sozialpartner auf ein verschärftes Vorgehen gegen die „Touristenbeschäftigung“ und intensivere Kontrollen der Privatunterkünfte geeinigt.
Der genaue Entstehungszusammenhang des ersten „Planquadrat“-Fotos ist ungeklärt. Für mich weist es trotz inhaltlicher Unterschiede Bezüglichkeiten zur Bildserie über die dokumentierte nächtliche Razzia auf. Nicht nur im Hinblick auf den Titel und das Ereignis, das es zitiert, sondern auch dahingehend, wen es abbildet. In beiden Fällen steht die Gruppe der Migrant_innen im Visier des Fotografen. Doch anders als in der Bildserie zur Razzia, in der sich die Gewalt der Polizei mit jener der Medien bündelte, musste sich der Fotograf für das erste Foto vorab die Zustimmung derjenigen einholen, die er porträtierte. Das schlägt sich auch im Bildinhalt nieder. Über seine Praxis des Fotografierens von Menschen soll Weber gesagt haben: „Ich photographiere sie zuerst, und dann unterhalte ich mich mit ihnen. Da erst lerne ich sie besser kennen, und manchmal mache ich dann neue Bilder, andere Bilder.“[2]
[1] Stern 13.9.1974, Nr.38/37Jg., 9-13.
[2] Aigner, Carl: Harry Weber. Ein photographisches Bilderleben, Wien-München: Christian Brandstätter 2001, 14.
Bildnachweise:
Foto mit Familie: Planquadrat. Kontrollbesuch der Polizei in einem Gastarbeiterquartier, um 1975; Foto: ÖNB Bildarchiv, Bestand Harry Weber. HW vp 4603
Foto Straße: Planquadrat Polizei Wien 1974; Foto: ÖNB Bildarchiv, Bestand Harry Weber. HWBox078_023901
Der Text erschien im Herbst 2014 in der STIMME – Zeitschrift der Initiative Minderheiten, Heft 92, S 30-31