Wir sind uns ähnlich

Letzten Monat sind 35 Jahre vergangen, seit ich in Wien zu leben anfing. Für einen Lebenslauf ist das eine lange Zeit. Für die Mitmenschen hingegen uninteressant. Die wahre Bedeutung dieser Zahl tritt erst zutage, wenn ich das Datum ausschreibe: März 1981.

Es war ein halbes Jahr nach dem Militärputsch in der Türkei am 12. September 1980. Tage, in denen die Existenz von unzähligen jungen Menschen vernichtet wurde. Eine Ära der staatlichen Willkür, der Angst und des Unrechts. Eine Zeit, in der Menschen, die dem Schreckensdreieck von Mord-Folter-Kerker entkamen, zu einem zerrissenen Leben in fremden Erdteilen gezwungen wurden. Auch ich verließ damals die Türkei.

In meinen ersten Wiener Monaten kriegte ich allmählich ein Gefühl der Sicherheit. Kein Polizist wollte mich verhaften, auf der Straße patrouillierte kein Soldat, aus keinem Auto mit dunklen Scheiben wurde auf Oppositionelle geschossen. „Wie schön“, dachte ich damals bei mir, „es gibt also solche Länder auf der Erde, wo man in Seelenruhe leben kann, wo Menschenrechte und Demokratie wirklich gelten!“

In jenen Tagen fragte mich auch fast jede_r Österreicher_in, den/die ich kennenlernte, über die Türkei aus: Was ist los in dem Land? Warum und wohin? Soweit mein politisches Wissen (das eines knapp 20-Jährigen!) reichte, versuchte ich, Antworten zu geben. Wieder einmal in einem solchen Gespräch, verstrickt in die schwierige Aufgabe, den für mich bereits damals problematischen „einheimischen Weg“ des sogenannten Kemalismus zu erklären, zitierte ich den berühmten Spruch Atatürks: „Wir sind uns ähnlich.“ Da sagte mein Gesprächspartner, dass es eine Entsprechung davon im Wiener Dialekt gebe: „Mir san mir.“ Es war dieser eine Moment, glaube ich, in dem ich anfing, das von mir bis dahin idealisierte Österreich nun mit kritischeren Augen zu sehen.

Unlängst, 35 Jahre nach jenem erleuchtenden Gespräch, plauderte ich mit einem Freund. Die Rede kam auf die „einheimischen“ Maßnahmen, die Österreich gegen die Asylsuchenden ergriffen hatte; vor allem auf die Schließung der sogenannten Balkan-Route, die unsere Regierung durch „internationale Gespräche“ erwirkt hatte.

„Mit dieser Tat der Regierung haben wir es wieder einmal geschafft, das niederträchtigste Land Europas zu werden!“, rief mein Freund aus.  „Wir haben den Ersten Weltkrieg angestiftet, den Zweiten hat ja eh ein Österreicher begonnen. Die einseitige Politik Österreichs hat den Bürgerkrieg in Jugoslawien angefacht; unser Land hat es in besseren Zeiten verhindert, dass die Türkei in die EU aufgenommen wird. Wir sind der erste und bisher einzige EU-Mitgliedstaat, für den es einen EU-Boykott gab! Und nun diese Niedertracht, inmitten einer menschlichen Tragödie die einheimischen Interessen vorzuschieben. Es geht ja nur um Stimmen!“

Die Worte meines Freundes wägte ich ab. Bin ich denn vom Regen in die Traufe gekommen?, fragte ich mich – wie so oft in den vergangenen 35 Jahren. Warum muss denn jedes Land, in dem ich gerade lebe, eine Politik der einheimischen Besonderheit verfolgen? Wenn auch halb im Scherz gefragt, ist dies eine paranoide Frage, ohne Zweifel!

Freilich gibt es eine ganze Reihe von gewichtigen Unterschieden zwischen Österreich und der Türkei: was etwa die Menschenrechte, Demokratie und Rechtstaatlichkeit anbelangt. „Das niederträchtigste Land der Welt“ ist zudem eine schwerwiegende Anschuldigung. Ich denke, dass jedes Land, in dem die Ideologie des Einheimischen mit jenem des Nationalismus eine ernstzunehmende Allianz eingeht, ein ähnliches Bild aufweist. Und es sind leider nicht wenige Länder, in denen dies zunehmend der Fall wird.

Eigenständigkeit, Patriotismus und Heimattreue sind durch historische Erfahrungen belastete Devisen. Das Problem ist aber nicht nur begrifflicher Art. Das ideologische Selbstverständnis, das sich in „Wir sind uns ähnlich“ bzw. „Mir san mir“ ausdrückt, hat jeweils auch eine unausgesprochene „weiterführende“ Kehrseite: „Ihr seid uns nicht ähnlich!“ bzw. „Ihr sads ned mir!“

Die minderheitenfeindliche Politik der Republik Türkei, die sich derzeit vor allem gegen die Kurd_innen richtet, ist wohl erst im Kontext dieser Kehrseite wirklich zu begreifen. Die menschenrechtsverletzende Politik der Republik Österreich gegenüber den Geflüchteten allerdings auch.

Eine längere Fassung dieses Textes erschien im März 2016 in Türkisch auf www.hallac.org

Eine Antwort

  1. Andrea Jantschko sagt:

    Es tut mir leid für Euch alle, die Ihr nach Österreich kommt und gekommen seid, in der Hoffnung, hier ein sichereres Leben führen zu können. Das Gefühl, ständig vorsichtig sein zu müssen und der Verfolgung durch Willkürherrscher ausgesetzt zu sein, muss SEHR schlimm sein. Eine Ahnung davon habe ich bekommen, als ich mich selbst erst vor kurzer Zeit in der Türkei aufhielt und an allen Ecken und Enden die Spannungen spürbar waren.

    Umso mehr wünsche ich mir, dass wenigstens in unserem Land ein Klima von Frieden und Akzeptanz gepflegt werden kann. Es stimmt, die ausgrenzenden Tendenzen, die “mir san mir”-Reaktionen nehmen zu. Meine Hoffnung ist, dass die Personen, die in den letzten Monaten gezeigt haben, dass das Boot noch lange nicht voll ist, sich mit ihrer Haltung durchsetzen. Von der Politik erwarte ich mir nicht viel, umso mehr setze ich auf die Zivilgesellschaft, die in Österreich auf Grund eines günstigen Schicksal wirklich sehr weit entwickelt ist.

    Leute, halt ma zsamm!

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