Aynwanderunk – Nix Sürük!

22.02.2017, München. Tunay Önder kommt gut gelaunt zum Interview. Wir kennen uns bereits, sind per Du. Treffpunkt ist der Eingang eines Nobelhotels direkt am Hauptbahnhof. Kurzer Hand beschließen wir, das großzügige Foyer für das Gespräch zu nutzen. Helles Licht und gleißende Februar-Sonne scheinen durch die Fenster. Start eines heiteren Austausches über Tunay Önders Biografie als Kind der Gastarbeiter-Aynwanderunk und ihrer Tätigkeit als grenzüberschreitende Bloggerin & Textterroristin. Insbesondere interessieren mich #Aufwachsen in München, #Lebenswege & Strategien, #Mehrheimische bis postmigrantische Visionen. Rasch verstreichen drei Stunden mit Cappuccinos, Mineralwasser, Keksen & Co. Um uns herum grüßen Pagen, tummeln sich Gäste, rollen Koffer. Dazu passend liegen Münchner Reisemagazine auf Arabisch aus. Mithin ein glänzender Nicht-Ort, um über Einwanderung, Nix Sürük und Transtopien näher ins Gespräch zu kommen.

Lesen Sie nun einen Zusammenschnitt dieses Gesprächs, das Marc Hill, Bildungswissenschaftler an der Universität Innsbruck mit Tunay Önder, Mitbegründerin des Blogs das migrantenstadl geführt hat:

 

Marc Hill: Wir befinden uns in München. Hier bist Du geboren und aufgewachsen. Kannst Du ein bisschen aus Deiner Erinnerung heraus über Deine Kindheit und das Aufwachsen erzählen?

Tunay Önder: Ja, ich versuche es Mal. Zentral oder der Anfangspunkt für mich ist sozusagen die Sozialisation in München, Milbertshofen. In einem klassischen Gastarbeiterviertel. Bezeichnend für dieses Viertel sind teilweise Hochhäuser, aber für Münchner Verhältnisse eben auch keine richtigen Hochhäuser. Dort stehen Arbeiterwohnungen, kleine, sehr, sehr einfach Wohnungen. Es ist eine sehr kinderreiche Gegend, Wäscheleinen im Hinterhof, große Hinterhöfe, die man aus Arbeitervierteln halt kennt. Ja, mir fallen da ganz viele Kinder ein, ganz viele Kinder aus aller Welt. Nur um da mal einige Länder zu nennen: Griechenland, Tunesien, Eritrea, Türkei, Spanien nicht, Italien … Da habe ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens verbracht. Ja, also tatsächlich, auch einfach ein ziemlich abgeschlossenes Quartier, in dem ich aufgewachsen bin, als gäbe es einfach keine Kinder, die muttersprachlich deutsch sprechen. Fällt mir im Nachhinein noch viel deutlicher auf. Dass das für mich so eine Normalität war – alle haben noch irgendeine andere Sprache gesprochen. Als ich dann aus diesem Viertel zum Studium nach Heidelberg rausgezogen bin, ja, da habe ich dann eben gesehen, okay, es gibt noch ganz andere Sozialisationen.

Ich glaube es war 1999, da wurde dann dieses Viertel (Milbertshofen, eig. Anmerkung) abgerissen und das war genau die Zeit, wo ich eh ausgezogen bin, um in Heidelberg zu studieren und ja, seitdem gibt es dieses Viertel in der Form nicht mehr. Jetzt sind halt neue, modernere Wohnblöcke gebaut worden. Die sind halt teurer. Ein Teil von den Leuten wohnt immer noch dort und sie sind dann in die Neubauten eingezogen. Ein anderer Teil ist weiter, sozusagen raus aus München in noch migrantischere Viertel gezogen; man könnte sie vielleicht auch Ghettos nennen. Meinen Eltern war es total wichtig, nicht noch weiter raus zu ziehen. Meine Schwester und ich, wir haben es dann geschafft, dass sie mehr in die Stadt reingezogen sind, auch in so Arbeiterviertel-Wohnhäuser, ganz alte, aber die stehen noch. Sie sind dann rüber gezogen, genau. Ich bin seitdem eigentlich da raus, ziehe sehr viel umher, allein schon wegen des Studiums natürlich. Ich bin mehrmals umgezogen, erstmal nach Heidelberg, dann nach Karlsruhe, Frankfurt, dann ein Jahr Istanbul und als ich dann wieder zurück nach München kam, habe ich mir dann einfach selbst einen neuen Stadtteil ausgesucht und das war dann die Gegend um den Hauptbahnhof, Westend. Die Gegend Westend liegt sehr dicht am Münchner Hauptbahnhof und dort ist es sehr, sehr nicht-münchnerisch, würde ich sagen. Deshalb gefällt mir dieser Stadtteil, wo ich jetzt lebe, Westend, Hauptbahnhof, so die Gegend sehr gut, es ist so wuselig, nicht ganz sauber, also verhältnismäßig aus der Perspektive der Münchner nicht so sauber. Aber eben vielfältig und da macht es einfach Spaß mit den vielen verschiedenen Buden und so. Da ist nicht nur eine Schicht anzutreffen, sondern es ist wirklich ziemlich durchmischt, würde ich sagen. Genau, das ist mein Wahlstadtviertel in München.

Eine Nachfrage hätte ich und zwar bezüglich der anderen Sozialisation in Heidelberg – was meinst Du damit genau? Du hast gesagt, da hast Du etwas Neues kennengelernt?

Ja, also, erstmal war es natürlich so, dass ganz viele Kinder, die mit uns in unserem Viertel großgeworden sind, dass diese Kinder, mit denen ich halt sehr viel Zeit verbracht habe, also eben bis in die Schulzeit hinein, ja, die meisten haben halt nicht studiert und auf diese Weise bin ich dann in Heidelberg auch einfach mit Menschen in Kontakt gekommen, die, ja, die angefangen haben, zu studieren, aber die hatten nochmal einen anderen Background. Sie kamen oft aus gebildeteren Haushalten, also Bildung im Sinne von Schulbildung und akademischer Bildung. Heidelberg war ja selbst sehr international, es gab auch wirklich Studierende aus der Türkei zum Beispiel oder auch aus ganz vielen anderen Ländern der Welt, aber diese Internationalität war sehr elitär. Okay, da hat man halt gemerkt, es waren also keine Arbeiterkinder, sondern wirklich die Kinder von Reichen, also von Leuten, die in der politischen Klasse irgendwie tätig sind, beispielsweise in der Türkei, deren Kinder werden dann nach Heidelberg geschickt und das ist mir eben aufgefallen. Dass eben eine bestimmte Art von Kindern, die vielleicht aus Arbeiterfamilien kommen, nicht wirklich da sind. Sei es jetzt unter den Deutschen oder unter den Migrantenkindern. Das war eigentlich durchweg eine Beobachtung, die ich gemacht habe.

Du hast gesagt, einige aus Deinem Viertel haben es nicht auf die Hochschule geschafft oder wollten dort nicht hin – wie ist Dir der Weg gelungen?

Na ja, das ist wirklich die große Frage, wie das eigentlich gelingt. Es gibt ja dieses Wort “statistische Wunder”, irgendwo gibt es immer statistische Wunder, die dann auftauchen, wo man sich denkt, “Du solltest eigentlich auf der Hauptschule sein”. Vielleicht geht das ein bisschen in diese Richtung. Es hat natürlich auch mit der Familie zu tun, auch wenn meine Eltern jetzt nicht lange in die Schule gegangen sind, auf weiterführende Schulen oder auch nicht studiert haben, war ihnen dennoch auch so ganz klar, dass eine gewisse Disziplin, eine gewisse Ordnung und eine gewisse Ruhe wichtig ist, damit die Kinder schulischen Erfolg haben. Das war ihnen klar und das war ihnen auch wichtig, dass sie schulischen Erfolg haben. Also ich denke, das waren so Faktoren, die ausschlaggebend waren. Sie haben versucht, Weichen für den Bildungserfolg ihrer Kinder zu stellen, so gut es ging. Das war jetzt wirklich nicht perfekt, wie das alles lief, aber ich denke, das hat auf jeden Fall eine wichtige Rolle gespielt.

Und auf was für einer Schule warst Du?       

Also nach der Grundschule bin ich direkt aufs Gymnasium gekommen. Meine Schwester ist ja eineinhalb Jahre älter, die ist vorher auch schon auf dieses selbe Gymnasium gewechselt und das ging so, dass es für mich eigentlich keine Empfehlung für das Gymnasium gab. Es wurden in der Grundschule nur drei Fächer benotet und ich hatte zwei Zweier und einen Dreier in Mathe. Die Grundschullehrerin meinte, ja – ne, ich würde mich zwar anstrengen, aber … Meine Eltern, vor allem meine Mutter, die wollte dennoch unbedingt, dass ich auf das Gymnasium gehe und da meine Schwester eh schon auf dem Gymnasium war, bin ich dann zu ihr rüber gewechselt und das war ein …, ich hab es dann probiert und es war schon schwierig, vor allem in Deutsch. Das Fach Deutsch hat mich total angestrengt und da war ich sehr, sehr schlecht, weil einfach dieses Aufsätze Schreiben, das geht einfach tatsächlich nicht so einfach, wenn man nicht muttersprachlich Deutsch ist, es ging dann aber. Ich bin auch nicht sitzengeblieben oder so, jedoch war ich nie eine gute Schülerin. Ich musste mich wirklich anstrengen und da glaube ich, muss ich mal ganz kurz überlegen, da gab es dann mit mir, aus der Klasse sozusagen, keine weiteren Schüler – doch ein kroatischer Junge ist mit mir noch aufs Gymnasium. Der ist dann nach einem Jahr, glaube ich, wieder weg, wieder runter vom Gymnasium. Also die ganzen türkischen Freunde, die ich da hatte, eine türkische Freundin hat es auch noch geschafft, aber die ist dann weggezogen und auf ein anderes Gymnasium gegangen, aber es war so. Irgendwie war man doch alleine da.

War das für Dich immer so ein Switch zwischen Wohnort und Schule? Wurde deutlich, dass es in der Schule eigentlich anders ist als im Viertel?

Ja, ne, die Schule war halt für alle anders, selbst für die Kinder, die aus guten Elternhäusern kamen, die irgendwie fett gelebt haben, eigenes Zimmer oder so hatten. Ich meine, die kamen in die Schule, da war die Schule für sie genauso anders, wie für mich, denke ich. Eher glaube ich, dass es im Leben außerhalb der Schule, wo man ja auch viel für die Schule machen muss, krasse Unterschiede gab und das hat man dann auch gemerkt, also im Sinne von, man hat räumlich gar nicht die Möglichkeiten, sich auszubreiten oder man hat keinen fetten Tisch oder man nicht einmal ein eigenes Zimmer. Ich weiß noch, dass es damals bei uns so war, also Kinderzimmer, ich weiß nicht, meine Eltern kannten so etwas wie Kinderzimmer überhaupt gar nicht. Das Kinderzimmer, also da wo wir geschlafen haben, wurde halt immer so genutzt, dass da halt auch mal Besucher drin waren. Besucher waren ja sehr, sehr wichtig, die mussten ja bewirtet werden und so. In dieser Hinsicht gab es für mich echt wahnsinnige Unterschiede. Also, das war eher so, dass die Schule, also da habe ich nicht mit gefremdelt, ich habe mich da sogar ganz wohl und gut aufgehoben gefühlt, ehrlich gesagt. Auf dem Gymnasium schon sehr.

Also, da gab es dann auch keine Unterscheidungen von den Lehrern aus?

Ich habe sie damals, zumindest damals nicht so wahrgenommen. Ne, ne.

Kann ich gut nachvollziehen. Die Selektion findet ja meistens schon früher statt.

Richtig, richtig. Genau, genau. Und ich glaube, die Selektion war an der Schwelle von der Grundschule zum Gymnasium, aber auf dem Gymnasium, also da gab es dann nichts mehr. Also selbst, wenn da irgendetwas gewirkt hat, habe ich es so nicht gemerkt.

Zu Deinen Eltern: Kannst Du etwas über ihre Migrationsgeschichte erzählen?

Mein Vater ist über diese ganz klassische Gastarbeiteranwerbung eingewandert. Er hat sich beworben. Er kommt aus einem kleinen Dorf und er ist zunächst im jungen Alter, was weiß ich, mit 20, in die Stadt Eskişehir gezogen und hat sich erst mal, wie sagt man denn so, als Arbeiter einen Job gesucht und zwar in einer Keksfabrik. Ich weiß nicht ganz genau, was er da gemacht hat, aber eben als Arbeiter gearbeitet und dann kam diese Gastarbeiteranwerbung und er dachte sich, cool, da kann ich im Ausland Geld verdienen. Mein Vater ist dann in den 70ern, ich glaube 68 oder 70, so genau weiß ich das nicht, ist er dann erstmal alleine nach Deutschland gekommen, direkt nach München mit dem Zug und hat dann hier zuerst auf dem Bau angefangen. Ziemlich bald hat er als Fabrikarbeiter zu BMW gewechselt. Als Fabrikarbeiter am Band, Akkordarbeit und da hat er sieben Jahre lang, glaube ich, gearbeitet, bevor er dann entschieden hat, ich werde hier wahrscheinlich länger bleiben, alleine halte ich es nicht aus, eine deutsche Frau finde ich jetzt auch nicht, beim nächste Mal gucke ich, dass ich eine geeignete Frau finde. Und in der Türkei oder in den Kreisen, wo sich meine Eltern so aufgehalten haben, da war es dann schon so, “aja, die hat doch eine nette Tochter” und man wurde schon so empfohlen. Auf diese Weise wurden sich meine Mutter und mein Vater vorgestellt, dann haben die sich kennengelernt und so ist dann meine Mutter fünf, sechs Jahre später dann hier her gekommen. Das war dann auch der Zeitpunkt, wo mein Vater, ich glaube fünf Jahre hat es gedauert, erst aus so einem Männerwohnheim ausgezogen ist und mit meiner Mutter in diesem Viertel [Milbertshofen, eig. Anmerkung] eine Wohnung bezogen hatte, wo ich dann eben meine Kindheit verbracht habe. Genau, und dann ist meine Mutter hier her gekommen und hat dann ziemlich schnell Kinder bekommen und war dann eigentlich Hausfrau, ja.

Dann hast Du Abitur gemacht und bist nach Heidelberg gegangen, um Soziologie zu studieren. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Nach meinem Abitur wollte ich irgendwie nicht das studieren, was nahe gelegen hätte, wenn man aus einer türkischen Familie kommt: Jura, Medizin, BWL (lacht). Was anderes kennt man irgendwie nicht, das ist halt, darunter kann man sich etwas vorstellen, aber Soziologie? Ich weiß nicht, wo ich das aufgeschnappt habe, aber irgendwie war das wichtig. Ich musste irgendetwas mit Gesellschaft machen, genau, dann habe ich mich eigentlich direkt für Soziologie eingeschrieben. Und ich wollte unbedingt nach Heidelberg, weil ich wollte in eine Unistadt, richtig in ein Universitätsleben eintauchen und habe dann Soziologie im Hauptfach gewählt.

Wobei München ja auch eine Unistadt ist?

Ja, aber München ist halt eine Großstadt. Da sind auch die Uni und das Unileben wichtig, aber Heidelberg besteht nur aus Uni. Also, und, wenn man dort hingeht, dann merkt man das auch. Die Stadt ist klein und die Uni ist da halt wahnsinnig präsent und international, also das hat ja etwas ganz eigenes.

Wie die Berge in Innsbruck.

Wie die Berge in Innsbruck, genau. Ja, ich fand es halt so schön international. Außerdem wäre München nicht in Frage gekommen, weil erst einmal wollte ich ein Magisterstudiengang und den gab es damals in München nicht. Und hätte es ihn gegeben, dann hätte ich mir einen anderen Grund einfallen lassen, denn ich wollte auch ausziehen und in München ist das zu teuer und dann sind meine Eltern da und dann gibt es keinen Grund, auszuziehen. Ja, man wollte halt ein eigenes Studentenleben führen. Dann habe ich Soziologie im Hauptfach und Politik und Ethnologie in den Nebenfächern studiert.

Gab es auch irgendwelche Vorbilder oder Lehrer*innen, die Dich zum Studium der Soziologie inspiriert haben?

Ich bin mir nicht ganz sicher, Lehrer würde ich eher nicht sagen, tatsächlich, aber ich kannte damals schon eine Soziologin, die mich nach dem Studium auch gleich als freie Mitarbeiterin für ihr Institut angeworben hatte. Damals hatte sie mich schon für Interviews auf der Straße mit Passanten angefragt. Ich denke, vielleicht hat sie mich beeinflusst, aber es ist mir wirklich nicht bewusst.

Damals in München bereits?

Es war in München, ja, während meiner Schulzeit hatte ich schon Kontakt zu ihr über Freunde. Da hatte sie ab und zu so mehrsprachige junge Schülerinnen gesucht, die ein paar Erhebungen machen können. Sie hat ein ganz kleines Institut und macht Evaluationen, Beratungen, Begleitungen. Und damals hat sie eben auch schon so Projekte gehabt. Die war halt damals schon wahnsinnig offen im Kopf und hat so ganz viele junge Mädels so aus Gastarbeiterfamilien immer mit Jobs versorgt, Nebenjobs im wissenschaftlichen Bereich. Ganz nett, Befragungen. Genau, vielleicht hat sie mich beeinflusst, aber ich bin mir dessen nicht so wirklich sicher, weil ich weiß, dass ich mich auf jeden Fall stark an so Leuten orientiert habe, die nicht konventionell waren, also auch an meiner Schule. Die dann gesagt haben, ich will erstmal ein Jahr ins Ausland, nach Lateinamerika u.s.w. Das waren dann auch immer diejenigen, die dann Soziologie oder Philosophie studiert haben. Die waren für mich immer Orientierungspunkte.

Spielte Deine familiale Migrationsgeschichte auch eine Rolle für die Entscheidung Soziologie zu studieren?

Ja, ich denke auf jeden Fall, weil ich intellektuell begreifen wollte, warum das Leben so ist, wie es ist. Also warum es so viele Unterschiede gibt, wie man behandelt wird oder eben auch diese Ungleichheiten. Einfach so ein bisschen dahinter steigen und herausfinden, womit das zu tun hat, so Begrifflichkeiten, Theorien, mit denen man vielleicht in Erfahrung bringen kann, was da eigentlich passiert. Ich denke jetzt im Nachhinein, das hat mich innerlich getrieben.

Gibt es in Bezug auf Ungleichheit ein Schlüsselerlebnis, an das Du Dich erinnern kannst?

Ja, Ja, auf jeden Fall, ich fand eben die Ungleichheit tatsächlich im Wohnen immer wahnsinnig spannend, also diese Ungleichheit hat mich immer beeindruckt, weil Andere so anders gelebt haben. Hier in München gab es ja dann eben ein bisschen weiter auswärts, also von da wo wir gewohnt haben, da fingen dann die Reihenhäuser an und ja, ich meine, wenn Freunde dann so in Reihenhäusern leben, die haben dann ein komplettes Dachgeschoß für sich. Da denkt man sich halt, oha, also Wahnsinn, wie geht das, sind die so steinreich (amüsiert sich), also solche Sachen haben mich auf jeden Fall schon beschäftigt, keine Ahnung mit 16, 17, steigt man da ja nicht ganz so dahinter, aber das fand ich schon immer interessant … so etwas, was mich beschäftigt hat und natürlich auch, warum man bestimmte Menschen nicht angetroffen hat, also warum die Leute, die man halt aus dem Bekanntenkreis kannte, die waren halt meistens Arbeiter, also sehr einfache Menschen und das war auch so, mmh, wo sind denn die? Und wieso können die nicht auch entscheidende Positionen haben? Das hat mich auf jeden Fall beschäftigt und auch besorgt, glaube ich, weil ich irgendwie,  glaube ich, ja den Wunsch hatte, etwas zu machen, wo man autonom und selbstbestimmt ist und was einem Spaß macht, in der Form zu arbeiten und nicht total instrumentalisiert.

Folgerichtig hast Du den Blog das migrantenstadl mitbegründet. Dort heißt es:

migrantenstadl ist ein blog von und für grenzüberschreitende, dadaisten und textterroristen, mit provokativen, subjektiven und politischen ansichten und geschichten aus dem migrantenmilieu, und darüber hinaus, in münchen und anderswo. migrantenstadl ist die stimme mitten aus der peripherie!

Für wen ist dieser Blog gedacht?

Ja, eben, die Zielgruppe des migrantenstadl, würde ich sagen, waren ganz am Anfang Menschen, die eben auch aus Gastarbeiterfamilien kamen, alle möglichen Nationalitäten, Glaubensrichtungen wurscht, aber eben diese Kopplung von irgendwie Ausländersein, also keinen richtigen Vollbürgerstatus zu haben und gleichzeitig aber auch nicht so mega-gebildet, also nicht aus einer megabildungsreichen Familie kommend. Ich denke, aus diesen beiden Dingen bestand so die Zielgruppe. Und jetzt, mittlerweile, sind da halt auch ganz viele, die eine postmigrantische Gesellschaft bejahen und sagen, diese Gesellschaft gehört nicht nur Deutschen oder nicht nur Migrant*innen, sondern wir sind halt eine Migrationsgesellschaft und alle die hier geboren sind, egal ob sie nun deutsche Vorfahren haben oder nicht, die müssen hier alle mitbestimmen und mitgestalten und das finden wir auch gut und bereichernd und so. All diese Leute, die so denken, die supporten halt das migrantenstadl. Das sind eben auch ganz viele Leute, die wirklich eben Deutsch-Deutsch sind, würde ich jetzt mal so sagen, also die hier geboren sind und auch zu dem selbstverständlichen Teil der Gesellschaft gehören.

Welche Rolle spielen die sozialen Medien im Migrationsdiskurs?

Also ich denke, da tut sich wahnsinnig viel. Gerade durch die ganze Blogsphäre, die in den letzten Jahren entstanden ist und Social Media, twitter, alles Mögliche. Heute ist es natürlich viel einfacher im Vergleich dazu, wie wir das eben auch mit dem Blog „das migrantenstadl“ gemacht haben. Es ist viel einfacher geworden, in den öffentlichen Diskurs einzusteigen und auch Aufmerksamkeit dadurch zu bekommen und gehört zu werden. Also da denke ich, das sehe ich ganz positiv, weil auch tatsächlich ganz viele Menschen die sozialen Medien auch wirklich nutzen. Eben wie wir auch. Ein Blog ist in einem Tag aufgesetzt und wenn man dann wirklich seine Inhalte hat, dann kann man im Grunde ziemlich ressourcenlos einsteigen. Das finde ich sehr, sehr gut, aber man muss natürlich auch sagen, es muss sich da noch was tun in den Medien. Also es tut sich etwas, aber es reicht natürlich bei weitem noch nicht aus. Bestimmte Perspektiven sind in den Medien total unterrepräsentiert, also auch in den Online-Medien. Gerade von etablierten berichterstattenden Medien, sagen wir es mal so, also da muss schon noch mehr passieren. Viele leisten bereits Bewusstseinsarbeit und es geht schon in die richtige Richtung, aber ich finde, wir sind weit davon entfernt … in den Redaktionen oder wirklich an entscheidenden Stellen von Medien sitzen sehr, sehr, sehr selten Menschen, die andere Perspektiven mitbringen, die aus Migrantenfamilien kommen. Also, das ist halt nach wie vor so, da hat sich nicht so viel verändert.

Deine Blogeinträge wirken provokativ. Christoph Schlingensief hat mal gesagt, “Provokation sei ein Mittel für Doofe” – wie siehst Du das mit Blick auf Deine Texte?

Ich habe übrigens eben gelesen, dass Schliengensief diese Sichtweise “Provokation als Mittel für Doofe” ablehnt. Wie auch immer er das gesehen haben mag, ich schreibe die als provokativ wahrgenommenen Texte oder Bildcollagen in erster Linie nicht, um zu provozieren, sondern um meiner Sichtweise Ausdruck zu verleihen. Es ist ein Akt gegen die Marginalisierung von Perspektiven. Ich will bestimmte Interpretationen, Ansichten oder Denkweisen umcodieren. Zum Beispiel die Fotocollage mit Merkel in Tschador oder die programmatischen Sprüche unseres Blog “Migriert, migriert, sonst sind wir verloren” oder “Integriert euch nicht!”. Damit will ich in aller Ruhe meine Sichtweise einbringen. Dass das für viele schon so eine Provokation ist, spricht Bände. Ich finde Merkel mit Kopftuch einfach nicht beängstigend, sondern lustig. Ist halt so. Wenn sich wer provoziert fühlt, dann ist das sein Bier, mit dem ich mich unter Umständen auseinandersetze, weil es ja etwas sagt über die Gesellschaft, über die Befindlichkeiten mancher und über kursierende Vorstellungen etc.

Was hat es eigentlich mit Deinem audiovisuellen Teppich mit Geschichten aus „das migrantenstadl“ (Abbildung 1) auf sich?

Der Teppich trägt den Titel “Transtopischer Teppich” und ist eine mehrteilige, multimediale Installation, die ich anlässlich der Nominierung für den Förderpreis Bildende Kunst der LH München entwickelt habe. Den Preis habe ich zwar nicht gekriegt, aber dafür wurde die Installation jetzt vom Stadtmuseum München angekauft und wird in die Ausstellung “Migration ist Stadt” zu sehen sein. Die Installation besteht aus Relikten, Texten, Dokumenten, Videos und Kassetten, die prägend waren für die Sozialisation in einer Gastarbeiterfamilie. Mit dieser Arbeit wollte ich einen Erinnerungs- und Erfahrungsraum schaffen und zwar aus dezidiert postmigrantischer Perspektive, das heißt mit Blick auf jene Aspekte, die unsereiner “mit Migrationshintergrund” als wichtig erachtet. Den Begriff Transtopie habe ich bei Prof. Dr. Erol Yildiz aufgeschnappt, der damit virtuelle, physische oder psychische Räume umschreibt, die postmigrantisch und daher zukunftsweisend sind.

 

Zur Person

Tunay Önder (geb. 1981, München), M.A. hat Soziologie und Politikwissenschaft studiert. Sie arbeitet mit künstlerischen, kulturellen und politischen Ausdrucksformen an postmigrantischer Selbstermächtigung und Emanzipation. 2011 gründete sie zusammen mit Imad Mustafa den Blog das migrantenstadl. Aktuelle Publikationen und Projekte: migrantenstadl, Unrast Verlag, 2016; Mitherausgeberin: Urteile. Ein dokumentarisches Theaterstück über die Opfer des NSU. Mit Texten über strukturellen Rassismus, Unrast, 2016; Kuratorin der Veranstaltungsreihe “Aynwanderunk – Nix Sürük!” an den Münchner Kammerspielen. Gemeinsam mit Marc Hill hat sie 2018 den Stadtspaziergang „Solo für Viele. Ein Hörerlebnis durch Innsbruck“ geschrieben (erscheint u.a. im Sammelband „Postmigrantische Visionen“, transcript). Termine: Von 23.8-2.9.2018 bespielt Tunay Önder im Rahmen der Wiesbaden Biennale die Wartburg.

 

Abbildung 1: Audiovisueller Teppich mit Geschichten aus das migrantenstadl, Ausstellung im Rahmen der Verleihung des Förderpreises 2016 der Landeshauptstadt München für Bildende Kunst, Lothringer, 2016/ Foto: aus das migrantenstadl.

Abbildung 2: Tunay Önder in Innsbruck/ Foto: Marc Hill

Abbildung 3: Biografieprotokoll, erstellt von Tunay Önder im Rahmen des Interviews, 2017, München. Zeichnung: Tunay Önder

 

 

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