Wählen heißt Entscheidungen treffen; Entscheidungen unterschiedlicher Tragweite: den größeren oder den kleineren Apfel an der Obsttheke; das legere, bodenlange Kleid oder das Businesskostüm für das Vorstellungsgespräch in einer Traditions-Anwaltskanzlei; die Partei, deren (von ihr bestimmte) Abgesandte das Land in den kommenden Jahren als Regierung leiten sollen.
Man nimmt das, was einem am besten entspricht, am besten gefällt, die meisten Vorteile, die wenigsten Nachteile bringt oder, im schlimmsten Fall, einfach nur den geringsten Schaden verursacht.
Wir spiegeln darin unser Bild der Welt.
Daran musste ich vergangenen Sonntagabend denken, als ich mir den Beginn der Bauhaus-Serie Die neue Zeit (ZDF) ansah, deren Konzept das Emanzipationsstreben von Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Vordergrund stellt. In der Terminologie des Postkolonialismus waren Frauen dieser Zeit Subalterne, die mangels einer eigenen Stimme eines Fürsprechers bedurften und denen dieser als Visionär die Hand zur sozialen Emanzipation reichte, gleichzeitig aber die Grenzen zog, wo diese Emanzipation endete – so zeichnet es der Film: Walter Gropius, der für sein Bauhaus-Konzept die Gleichberechtigung der Geschlechter propagiert; der aber privat an der selbstbewussten und über (von ihm unabhängigen) sozialen Status verfügenden Alma Mahler Gropius (spätere Werfel) als Ehemann scheitert.
Frau zu sein – und als Frau Männern gleichgestellt zu sein –, war noch vor hundert Jahren ein europäisches Minderheitenprogramm. Ohne behaupten zu wollen, es sei inzwischen ein europäisches Mehrheitsprogramm geworden (es ist es nicht!), sind unsere aktuellen emanzipatorischen Minderheitsprogramme (und ich verwende diesen Begriff zunächst völlig wertfrei) andere.
Dies machte mir einmal mehr das kürzlich erschienene Buch Migration bewegt und bildet, hrsg. von Erol Yildiz et al., klar; ein interessantes und sehr lesenswertes Buch, das sich einem dieser emanzipatorischen Minderheitsprogramme widmet (für Interessierte: mein nächster Blogbeitrag am 3.10.2019 wird eine Besprechung dieses Buches und der Dissertation De-Colonising the Western Gaze: The Portrait as a Multi-Sensory Cultural Practice von Angelika Böck sein).
Die dort mit Vehemenz entworfene Welt ist die einer postmigrantischen Gesellschaft – eine emanzipatorische, kooperative, konsensorientierte Welt der kulturellen Balance.
Gleichzeitig ist es aber eine Sicht, die – man muss es leider eingestehen – weltweit in der (politischen) Minderheit ist.
Und in Demokratien bestimmen die Mehrheiten: Egal, was die Mehrheit für gut befindet; die Minderheit muss sich dem unterordnen.
Man könnte dies als ein Defizit der Demokratie betrachten – als den Leuchtturm sieht man es nur, wenn man der Mehrheit angehört.
Gehört man ihr nicht an, kann man eine von zwei Optionen wählen: Resignation oder Emanzipation, nämlich Minderheiteninhalte zu Mehrheitsinhalten zu machen.
Dabei geht es zentral um Lernprozesse. Autokratische Systeme würden auf Umerziehung setzen. Die historischen Beispiele hierfür sind bekannt – ebenso wie ihre Ausgänge: Fällt das System, zeigt sich das Vakuum.
Denn nachhaltiges Lernen bedarf der intrinsischen Motivation: man muss von dem, was man lernt, überzeugt sein – von seinem Wert, von seinem Nutzen; man muss es wollen. Extrinsische Motivation bringt nur kurzzeitige Reaktionen, die mit dem Auslöser/ dem Verursacher der Motivation meist wieder verschwinden und nichts zurücklassen das Substanz hätte; eben ein Vakuum.
Intrinsische Motivation benötigt den Auslöser, der Menschen dazu bringt, eigene Standpunkte zu hinterfragen, andere Ideen zu übernehmen.
Nun sind Minderheiteninhalte zunächst anders als das, was die Mehrheit vertritt. Je nachdem, was man als die eigenen Werte betrachtet, erscheinen sie einem entweder als gut oder als schlecht; man sieht die Bedrohung des status quo der Gesellschaft, wenn sie sich durchsetzen.
Gelegentlich passiert es aber doch – und schlägt, ebenso gelegentlich, ins Extrem. Historisch gesehen, hat sich Ende des 18. Jahrhunderts die Überzeugung durchgesetzt, das zukunftsweisende Modell eines gedeihlichen Zusammenlebens sei die Nation; zunächst ein Minderheitenkonzept setzte sich das Konzept durch; es wurde ein sehr dauerhaftes Konzept – und ein sehr zerstörerisches, wie uns das 20. Jahrhundert lehrte.
Trotzdem ist die Zugehörigkeit zur Nation bis heute in den Wertesystemen einer Mehrheit der weltweiten Bevölkerung fest verankert – daran zu rütteln, wird als Gefahr gesehen; als Gefahr für den eigenen Machterhalt; auch wenn die extreme Ausformung der nationalen Sicht als „rechter Rand“ geächtet ist und so wieder zum Minderheitenprogramm erklärt wurde.
Am 29. September wählt Österreich. Beim Betrachten der aktuellen Wahlplakate auf dem täglichen Weg zwischen Arbeitsplatz und Zuhause fühle ich mich an ein Werk der österreichischen Literatur erinnert: Franz Grillparzers “Weh dem der lügt”, das von einem Küchenjungen handelt, der so unglaubliche Wahrheiten verkündet, dass ihn alle für einen Lügner halten und er so seinen Plan umsetzen kann, einen Gefangenen aus dem Gefängnis zu befreien.
Wahlplakate, Wahlslogans und Politiker-Statements, die den österreichischen Wähler_innen Politiker_innen versprechen, die „auf die Werte schauen“, die versprechen, eine andere Partei „auf den rechten Weg zu bringen“ oder eine andere Partei „an die Hand zu nehmen“, die Fragen stellen wie „Wen würde der Anstand wählen?“ zeugen allesamt von einer Mischung aus messianischem Sendungsbewusstsein, suggestiver Instrumentalisierung von aktiven Mehrheitswerten und Ängsten vor als links stigmatisierten oder als rechts zu erkennenden Minderheitswerten, hintergründigen Sprachspielen, die Inhalte eigentlich klar benennen, sie aber so verkehren und verbrämen, dass sie nur indirekt zu erkennen sind und so ansetzen, das ihnen implizite Minderheitenprogramm zum Mehrheitsprogramm zu machen.
Mehrheitsprogramme stehen so neben zwei diametral gegensätzlichen Minderheitenprogrammen.
Die Frage, die zur Wahl steht, lautet: In welcher Welt wollen wir leben?
Und insofern gibt es beim Wählen keine Irrtümer. Man wählt nicht als „Irrtum“. Man wählt, weil man es will und weil man das, was man wählt, für die beste Möglichkeit hält.
Am 29. September wählt Österreich.
© Veronika Bernard 2019