Im Zentrum meines heutigen Blogbeitrags stehen zwei aktuelle Publikationen: Der Sammelband “Migration bewegt und bildet”, hrsg. von Erol Yildiz et al., und die Dissertation “De-Colonising the Western Gaze: The Portrait as a Multi-Sensory Cultural Practice” von Angelika Boeck, die sich beide mit der Herangehensweise von Gesellschaften in Bezug auf das Nicht-Eigene auseinandersetzen; aus soziologischer Perspektive die eine; aus der Perspektive der Kunst die andere.
Während der Sammelband von Erol Yildiz postmigrantische Positionen in der Theorie diskutiert und an konkreten Beispielen (Dissertations-Studien, Fallstudien) darstellt, entwickelt Boeck ihre These einer De-Kolonisierung des westlichen Blicks am Portrait und dort am Beispiel ihrer Kunstprojekte, die den direkten Kontakt zu nicht-eigenen Kulturen analytisch-kreativ umsetzen; über eines dieser Projekte (Imagine me), das die weibliche Verschleierung zum Thema hat, kam ich im Zuge meines Ausstellungsprojektes Images (2011-2015) vor rund acht Jahren in Kontakt mit Angelika Boeck.
Zwei völlig unterschiedlich angelegte Publikationen könnte man meinen. Doch hier könnte man irren. Tatsächlich kreisen beide Publikationen um ein identisches Zentrum: die Sichtbarkeit; die Sichtbarkeit von Menschen, Individuen, in einem persönlichen und in einem gesellschaftlichen Kontext.
Während es in Boecks Arbeit der autobiographisch inspirierte, explizite Wunsch nach Sichtbarkeit ist, der den Ausgangspunkt ihrer Projekte und These bildet, ist es in der postmigrantischen Perspektive des von Yildiz et al. herausgegebenen Sammelbandes ein auf mehreren Ebenen mehrfach verwobenes Spiel aus dem Wunsch nach Sichtbarkeit einerseits (im Sinne von Kenntnisnahme migrantischen Potentials) und Unsichtbarkeit andererseits (im Sinne einer gesellschaftlichen Normalität, die keiner ausdrücklichen Thematisierung bedarf), das den postmigrantischen Ansatz und die postmigrantische Realität bestimmt.
Insbesondere die Fallbeispiele in den Abschnitten „Stadträume und Bildung“ (Vanessa Kröll: „Ankommen – Begreifen – Stadt gestalten. Drei Bildunterschriften zum Thema Stadtgesellschaften und Migration“), „Rassismus und Nationalismus“ (Selvihan Akkaya: „Die unterschätzte Rolle psychosozialer Aspekte in der Integrationsdebatte“; Maria Silbermann: „Mehrsprachigkeit. Zur Bedeutung von Sprachen für intra- und interpersonale Prozesse“), „Familien und Generationen“ (Maria A. Wolf: „Praktizierte Praktiken der Resignation. Benachteiligungswahrnehmungen von migrantischen Eltern in den Volksschulen ihrer Kinder“; Anita Rotter: „‚Hey Nazan, wow, du bist eigentlich fast so wie wir!‘. Ein Einblick in die (inner-)generationelle und städtische Biografie einer jungen Postmigrantin“; Ümran Gedik: „Lebens- und Bildungsstrategien von Jugendlichen unter prekären Bedingungen“) legen hiervon beeindruckendes und lehrrreiches Zeugnis ab.
Die Beiträge im Abschnitt „Meiden und Repräsentation“ (Alexander Böttcher: „Alte Bilder neu konstruiert? Überlegungen zur Wirkung und Rolle des Bildes in geschichtlicher Perspektive bis zur Kölner Silvesternacht 2015/16“; Hanna Glaeser: „Die Konstruktion von fremden Männlichkeiten in der Berichterstattung über die Kölner Silvesternacht. Eine Diskursanalyse“) schließlich analysieren aus soziologischer Sicht historische und aktuelle Ausgrenzungs-Portraits von Männern nicht-europäischer Herkunft – denn nichts anderes ist die von den Beiträgen diskutierte Darstellung in den Medien.
Boecks Dissertation fasst die Diskussion von Portrait-Darstellungen im Kontext des Wechselspiels von (kultureller) Eigen-und Fremdbild umfassender auf. Als pdf auf der Seite der Technological University Dublin abrufbar, präsentiert der Text mit entsprechender Bebilderung die im Titel komprimiert formulierte These der Autorin. In ihrer Verifizierung greift die Arbeit über die visuelle Darstellung und Wahrnehmung von Individuen (Portraits) aus auf die kulturell unterschiedliche Interpretation der Sinne und der Wahrnehmung und Individualisierung – also der „Sichtbarmachung“ und des „Sichtbar-Werdens“ eines Individuums – über andere Sinne als den Gesichtssinn.
Zwei beeindruckende Publikationen in der Tat, die einem bei der Lektüre „die Augen öffnen“.
©Veronika Bernard 2019