Trump und Strache, „Hasspostings“ und schmutzige Politkampagnen – in Wahlzeiten nimmt sich die Menschheit eine Auszeit von guten Sitten. Manche Beobachter_innen halten solch verbale Enthemmung für einen Auswuchs des Internets, das Anonymität und Tarnung anbietet. Andere weisen darauf hin, dass Politik zunehmend von Populismus beherrscht werde, weil „normale“ Politiker_innen zu elitär seien. Das Problem hat offenbar, wie so oft, mehrere Seiten.
Ich mag Harald Martenstein. Er bringt Sachverhalte auf den Punkt, ohne sich um doktrinäre Reinheit zu kümmern. Er sagt Dinge, die sich viele von uns nicht zu sagen trauen, auch ich nicht. Er lässt sich von keinem Gruppenzwang oder sozialen Druck beirren. Seine Argumente sind zumeist überzeichnet und simpel, aber zumeist in sich stimmig und einleuchtend. Das bewundere ich, obwohl ich in vielen Fragen eine andere Meinung vertrete als er – oder zumindest etwas differenzierter argumentieren würde, sollte ich mich eben trauen, jene Dinge zu sagen, die er sagt.
Neulich zog Martenstein in seiner Kolumne im ZEITMAGAZIN (Nr. 45/2016) folgenden Vergleich zwischen Stammtisch und Social Media:
„Alkoholisierte oder von Adrenalin geflutete Menschen sitzen beisammen und lassen ihrer Wut auf dieses oder jenes freien Lauf. Du redest den letzten Scheiß, im Grunde weißt du, dass es Scheiß ist. Manche brauchen so ein Ventil. Schimpfen und Fluchen hat bestimmt manchmal eine nützliche Funktion, als Aderlass der Seele. Hinterher sind die Leute wieder gesellschaftsfähig und haben sich im Griff. Früher blieb das im Kreis der Gleichgesinnten, heute erfährt davon die ganze Welt, dank Twitter und Facebook.“
In derselben Ausgabe der ZEIT beantwortet Markus Söder, der bayrische Finanzminister und CSU-Mann, die Frage „Was ist heute christlich?“ mit der kargen Eleganz eines bayrischen CSU-Mannes:
„Kirche und Politik sollten mehr auf Luther hören: den Leuten aufs Maul schauen und deutsch mit ihnen reden!“
Es gibt eine wunderschöne Bildungsmaßnahme, die von einem anderen Deutschen, dem Politologen und Erwachsenenbildner Klaus-Peter Hufer, entwickelt wurde: das „Argumentationstraining gegen Stammtischparolen“. Der Titel ist hier Programm; die Teilnehmer_innen üben in diesem Training kommunikative Strategien und verschiedene Formen des Argumentierens, die über das bloße Anführen von Zahlen und Fakten hinausgehen. Manchmal muss man subversiv argumentieren, indem man die schrecklichen Konsequenzen der geäußerten Parolen pointiert aufzeigt. Manchmal hilft Humor, oft Ironie. Bisweilen ist es nur klare Haltung, die nützlich sein kann.
Hufer räumt selbst ein, dass die Parolen am Stammtisch eine Ventil-Funktion haben können, von der eben auch Martenstein spricht. Im Workshop wird aber vor allem über die politische Gefahr der Stammtischparolen nachgedacht, darüber, wie sie in den kleinsten Zellen der Gesellschaft den Boden für Rassismus und Sexismus, für Minderheitenfeindlichkeit und Autoritarismus aufbereiten bzw. „warm halten“ können.
Wie man sieht, hat die Sache auch hier mehrere Seiten. Luther, der die Sprache des „einfachen Volkes“ lernen wollte, um ihm die heiligen Texte zugänglich zu machen, hatte freilich andere Motive als der bayrische Finanzminister. Jedenfalls sind die berühmten 95 Thesen bereits 499 Jahre alt – eine Zeitspanne, die zwar für die Evolution zu kurz, fürs Dazulernen aber fast schon zu lang ist. Auch für einen CSU-Politiker.
Die Zwickmühle „Populismus versus Elitismus“ ist indes älter als die Reformation, und zwischen diesen beiden Polen schwingt das Pendel der „richtigen“ Politik seit Jahrhunderten hin und her. Auch politische Parolen sind mitunter Stammtischparolen. Zumindest entstammen sie oft dem Gegröle am Stammtisch oder beeinflussen dieses – rechts wie links. Das Maul des „Volkes“ riecht bisweilen wahrlich nicht nach Nelken. Ihm deswegen durch die Linse eines Fernrohrs zu begegnen ist aber genauso unpolitisch, wie sich programmatisch an den Gestank zu gewöhnen. Andererseits schwenkt der Odem des Elitären nicht selten selbst eine Alkoholfahne. Der Unterschied zwischen dieser und der Volksfahne liegt in der Qualität des getrunkenen Weines. Das wäre aber Thema eines Gourmet-Blogs.
PS: Ich habe diesen Text einen halben Tag vor der US-Präsidentschaftswahl (MEZ) geschrieben. Heute, am Tag danach, steht der (laut Umfagen) unwahrscheinlichere der beiden Kandidat_innen als Präsident in spe fest. Darum muss ich einen Zusatz anbringen: Ich will auch angesichts dieses Wahlergebnisses dem Geschriebenen nichts hinzufügen.