Die vorletzten Tage der Menschheit

DER OPTIMIST: Es ist nicht alles schlecht. Wir können uns heute einiges leisten: neue Kleidung, Auto, Eigentumswohnung in der Seestadt, Theater, Konzert und Weihnachtsmarkt. Wer fleißig und willens ist, bekommt eine gutbezahlte Stelle, mit Homeoffice und Work-Life-Balance, 14 Gehälter, fünf Wochen Urlaub. Es gibt Schlimmeres.

DER NÖRGLER: Nur wenn man sich umzuschauen weiß. Global-nördlicher Echoraum und schichtspezifische Filterblase heißen die neuen Mauern, gegen die sich jeder eiserne Vorhang weicher ausnähme als Wachs.

DER OPTIMIST: Die alte Leier von Kolonialismus, globaler Ungerechtigkeit und verschwindender Solidarität! Finden Sie nicht, dass wir den Klassenkampf und die Identitätspolitik schon für alle Zeiten hinter uns gelassen haben?

DER NÖRGLER: Sie scheinen aber schneller gewesen zu sein als wir, denn bald werden wir von ihnen überholt. Unterwegs sind ihnen einige Fahrgäste zugestiegen: Klimakrise, Digitalisierung und autoritäre Demokratie. Sie werden bald sehen, dass Ihre Sehkraft mit dem Alter abgenommen hat. Das Ende kommt näher, je langsamer wir werden.

DER OPTIMIST: Ich weiß nicht, was Sie zu dieser düsteren Prognose berechtigt. Sie schließen offenbar von unvermeidlichen Begleiterscheinungen auf das Ganze. Sie gehen von zufälligen Ärgernissen aus, die Sie für Symptome nehmen. Wir lernen aus unseren Fehlern und von der Krise selbst. Merken Sie denn nicht, dass justament durch die von Ihnen erwähnten Dinge eine neue, eine große Zeit angebrochen ist?

DER NÖRGLER: Ich habe sie noch gekannt, wie sie so klein war, und sie wird es wieder werden.

DER OPTIMIST: Wir diskutieren schon über bedingungsloses Grundeinkommen, Abschaffung des Plastiks, Insektenfleisch statt Viehzucht. Veganismus verbreitet sich, die Jugend ist so wach wie noch nie, Fridays for Future heißt die Gegenwart, Empörung und Konsumverweigerung machen die Welt zu einer besseren. Die Zukunft ist zum Greifen –

DER NÖRGLER: – viel zu weit, wenn unsere Hände dann überhaupt noch Kraft haben werden zum Greifen. Die Menschheit geht an sich selbst zugrunde. Der saure Regen von gestern fühlt sich wie ein basisches Erfrischungsgetränk an im Vergleich zu den Fluten, die uns nun weltweit jährlich heimsuchen. Bald wird eine neue Arche benötigt werden – viele selbsternannte Noahs bieten sich als Retter an, von Trump bis Orbán, wer aber wird einsteigen dürfen in deren Arche? Sehen Sie sich nur das Mittelmeer an: Wir bräuchten täglich mehrere Schiffe in der Dimension des biblischen, um die auf der Flucht ertrinkenden Menschen zu retten. Aber warum bewegt das fast niemanden mehr? Warum gibt es keine Fridays for Refugees? Ein Mittwoch im Monat würde es auch tun. Warum gehen jene jungen Leute, die öffentlich weinen, weil viele Insekten sterben, nicht für ertrinkende und ertrunkene Menschen auf die Straße? Weil das nicht genug hergibt für die kollektive Empörung? Oder weil sie dieses Problem durch Verweigerung von bestimmten Konsumgütern nicht lösen können? Eines sollte man jedenfalls den Alternativökonomen ins Stammbuch schreiben: Kein bedingungsloses Grundeinkommen der Welt kann die Menschen vom Zwang des Kapitals befreien, wenn man dabei grundlose Bedingungen stellt wie die Staatsbürgerschaft.

DER OPTIMIST: Sie sind ein Apokalyptiker! Als alter weißer Mann steht Ihnen das freilich zu. Die jungen Menschen dürfen Sie aber nicht herunterziehen mit Ihren dystopischen Weltbildern. Die jungen Leute wollen ihre Utopien –

DER NÖRGLER: – allen aufzwingen, auch jenen, die jede Utopie satthaben. Glauben Sie, das ist die erste Generation, die sich die Zukunft durch „realistische“ Planung versauern wird? Ohne Utopien, diese Noch-nicht-Orte, wäre die Welt ein bewohnbarer Ort geblieben. Sie wiederum sind ein Makler, der Grundstücke im Paradies feilbietet. Nur dass das Paradies mittlerweile aus der Zukunft verbannt wurde.

DER OPTIMIST: Eigentlich sind Sie ja der Optimist. Sie glauben und hoffen, dass die Welt untergeht.

DER NÖRGLER: Nein, sie verläuft nur wie mein Angsttraum.

DER OPTIMIST: Ich wünsche trotzdem: Frohe Weihnachten! Wollen wir denn gemeinsam zu einem Punschstandl gehen? Ist ja auch für einen karitativen Zweck.

DER NÖRGLER: Wer alle Hoffnung fahren lässt, verpasst dabei auch seine Straßenbahn. Was bleibt mir sonst übrig, als meine Ängste im schlimmsten aller Getränke zu ersaufen, sodass die Zukunft hoffentlich ihre letzten Konturen verliert? Gehen wir!

Aus weihnachtlich-besinnlichen Gründen habe ich mir erlaubt, vom Meister Karl Kraus die beiden bekannten Figuren für ein paar Minuten auszuborgen – mitsamt einigen seiner Sätze, die abgedruckt sind in: Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Suhrkamp: Frankfurt/M. 1986.

 

Dieser Text erscheint in der aktuellen Ausgabe der STIMME, Nr. 113 / Winter 2019, als "Stimmlage"-Kolumne des Autors.

Bild: Noahs Arche, Gemälde von Edward Hicks, 1846 – aQFz9qNv8QS26Q at Google Cultural Institute, Gemeinfrei, Link

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