Vom Recht auf die eigene Meinung und dem Recht auf Widerspruch …

Zum Jahresausklang eine Beichte: Ich liebe Kabarett! Insbesondere politisches Kabarett im weitesten Sinne.

Es ist die Pointierung, das fast chirurgisch geführte Skalpell der gesellschaftlichen und politischen Analyse, das elegant geführte Florett der sprachlichen Raffinesse.

Es ist das Ritual der auf die minimale Essenz reduzierten und zugespitzten Erkenntnis – einer Erkenntnis, die nicht jedem gefallen muss. Sie ist zumeist unbequem. Unbequem für die, gegen deren Ansichten, Handlungen und Aussagen sie sich richtet.

Als ritualisierte Form der Kritik hat Kabarett die Funktion eines gesellschaftlichen Korrektivs: Kabarettist*innen haben die Begabung, den Finger auf und in die Wunde zu legen, die sich in unserem Zusammenleben auftun.

So philosophierte vor wenigen Wochen ein junger Kabarettist in den „Mitternachtsspitzen“ (einem vom Westdeutschen Rundfunk ausgestrahlten Kabarettformat) über den Umstand, dass laut einer aktuellen Umfrage eine wachsende Anzahl der Deutschen glauben, eine Einschränkung ihrer Freiheit zur Äußerung der eigenen Meinung wahrzunehmen.

Am plakativen Beispiel entwickelte er seine Conclusio zu dieser Wahrnehmung: Offenbar liege hier eine grundsätzliche Verwechslung vor, nämlich die zwischen dem Recht auf eigene Meinung und dem Glauben, diese unwidersprochen äußern zu können – insbesondere dann, wenn sie andere diskreditiert und in ihrer Würde verletzt.

Kritischer Diskurs – die intelligente und konstruktive Abfolge von Argument, Gegenargument, Entgegnung, Entkräftung und Illustration -, der nicht notwendig zum Konsens gelangen muss, sondern dem es um den geregelten, die Würde des Andersdenkenden respektierenden, Austausch, die Kenntnisnahme, aber auch um die Relativierung von die Menschenwürde verletzenden Meinungen, Handlungen und Aussagen geht, wird als Einschränkung der Meinungsfreiheit gesehen – weil er eben auch den Widerspruch strukturell vorsieht.

Diese Abkehr von der Bereitschaft, sich konstruktiver Kritik der eigenen Meinung zu stellen, geht Hand in Hand mit der Überschreitung sowohl inhaltlicher als auch sprachlicher Grenzen der Meinungsäußerung.

Ein signifikantes Zeichen solcher Grenzüberschreitung ist der Wechsel vom Sie zum Du in der Anrede – und in der Beschimpfung – der Andersdenkenden.

Und tatsächlich ist dies stimmig: Wird die Anrede mit „Sie“ im Deutschen als die Höflichkeitsform bezeichnet – eben als jene Anrede, mit der man seinem Gegenüber die gesellschaftliche Vollwertigkeit zum Ausdruck bringt.

Es ist der Respekt vor seiner Menschenwürde, die man – im umgekehrten Fall – entziehen kann und auch entzieht, wenn man jemandem die Anrede mit „Sie“ entzieht oder verweigert: den Menschen, die man aufgrund der Hautfarbe für jemanden mit Migrationshintergrund – und damit als jemand der/die nicht dazugehört – hält (niemand wird so oft unaufgefordert geduzt wie Menschen mit Migrationshintergrund), den Menschen mit Behinderung (denen man mit dieser Anrede signalisiert, dass man sie nicht „für voll“ nimmt), den Jugendlichen, denen man so zeigt, dass sie eben noch nicht ebenbürtig sind und den Jugendlichen, die die Erwachsene mit der Anrede „Alter, was willst du???“ auf diese Art ihre Verachtung vor die Füße speit.

Unaufgefordertes Duzen ist eine Methode der gesellschaftlichen Abwertung – ebenso wie Aussagen und Handlungen, die unter dem Mantel der Meinungsfreiheit, die Würde des Anderen relativieren.

Ich bin eine entschiedene Verfechterin des kritischen Diskurses – und ich bin eine Verfechterin des Grundsatzes: Die Grenzen der eigenen Meinungsäußerung definieren sich durch die Würde des Anderen.

Und dies hat nichts zu tun mit Selbstzensur oder missverstandener „politischer Korrektheit“. Es ist der gelebte Grundsatz, die Anderen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte.

In diesem Sinne schließe ich mich im Rückblick auf das zu Ende gehende Jahr und in meinen Wünschen für das kommende Jahr den Wünschen des Kabarettisten Winfried Schmickler an, der – sinngemäß – in seinem Soloprogramm „Kein Zurück“ neben anderen folgende zwei Wünsche für die Zukunft formulierte:

Erstens: Den Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ein Jahr lang überall zu plakatieren.

Und zweitens: Den Grundsatz umzusetzen, „Duzen Sie nur denjenigen, der Sie ausdrücklich darum bittet!“

 

©Veronika Bernard 2019

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