Etwas anderes erzählen – Archivarbeit wider die historische Einseitigkeit: »re:framing jenisch« – Projektpräsentation 17.12.2022 | 18:00 Uhr | Kulturbogen55, Innsbruck

Der Blick der Autoritäten auf Jenische zeugt bis weit in die Geschichte der Zweiten Republik hinein vom Verlangen, ihre Lebensweise zum Verschwinden zu bringen und äußert sich nicht zuletzt in den Archiven der Mehrheitsgesellschaft. Es ist Zeit für eine Gegenerzählung, denn jenische Stimmen fehlen in den historischen Sammlungen weitgehend.

Eine Leerstelle im kollektiven schriftlichen Wissen war für Romed Mungenast Anstoß, sich eingehend mit der Geschichte der Jenischen – und damit auch der eigenen Biografie – zu beschäftigen[1]:

„Ich konnte einfach nicht akzeptieren, dass wir ,erbmäßig minderwertige‘ Menschen sein sollen. … Es war keine Zusatzinformation da in den Bibliotheken. … Das hat mich so geärgert, dass ich dachte: Ich möchte etwas anderes erzählen.“[2]

Die Zusatzinformationen, die er 2003 im Gespräch mit dem Schweizer Historiker Thomas Huonker vermisst, lassen sich auf unterschiedliche Arten verstehen: Zum einen als solche, die das historische Wissen über Jenische kritisch kontextualisieren. Andererseits fehlen jenische Gegenerzählungen zum mehrheitsgesellschaftlichen Narrativ, in dem die Fahrenden zwar mitunter romantisiert, zum größten Teil jedoch als zu lösendes Problem gesehen wurden.

Vor diesem Hintergrund ist die Gründung des Jenischen Archivs 2021 zu verstehen: Als kritische Praxis, um die Archive der Mehrheitskultur gegen den Strich zu lesen und alternativen Deutungen Raum zu schaffen.

Die Archive der Mehrheitskultur

Eine Annäherung an das Archiv kann etymologisch erfolgen: Der Begriff leitet sich von „archéion“ (dem Regierungsgebäude oder der Behörde) ab, welches seinerseits auf „archḗ“ (den Anfang aber auch die Herrschaft) verweist. Man kann das Archiv aber auch als Ort der Praxis begreifen[3] – als Ort des Sammelns, des Speicherns, des Aufbewahrens. Welche Annäherung man auch wählt, beide weisen in Bezug zu Jenischen einen problematischen Kern auf.

Als Institution der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Obrigkeiten üben Archive Herrschaft aus. Sie wählen aus den zur Verfügung stehenden Quellen jene, die in den Stand des Archivguts gehoben und dort bewahrt werden, um die Integrität dieses „Archivguts zu schützen und auf diese Weise zu gewährleisten, dass es ein zuverlässiger Beweis der Vergangenheit bleibt“[4]. Die Auswahl erfolgt dabei nicht von Fall zu Fall, sondern folgt institutionalisierten Kriterien, offiziellen Sammlungsaufträgen und entlang klar abgegrenzter Zuständigkeiten. Häufig handelt es sich beim Archivgut um Unikate – Verwaltungsakte oder administrativen Schriftverkehr – die dem natürlichen Gang der Institution erwachsen und deren Zugang geregelt werden soll. Die Macht der Archive wirkt allerdings auch in die entgegengesetzte Richtung: Die Archivtechnik beschreibt nicht nur „den Moment der bewahrenden Aufzeichnung, sondern [bestimmt] schon die Institution des archivierbaren Ereignisses“.[5]

Das Archiv ist somit keine unschuldige Abbildung neutraler Ereignisse, vielmehr ein durch privilegierte Zugänge gekennzeichneter Ort, in dem sich Herrschaftsansprüche der Macht widerspiegeln. Alternative Deutungen, insbesondere jene solcher Gruppen, die als Opposition wahrgenommen werden, finden darin keinen Einzug. Somit tauchen Spuren jenischer Kultur in den Archiven hauptsächlich in Form von Dokumenten aus den Bezirkshauptmannschaften, den Landesgerichten oder in Polizeiakten auf, sie finden sich aber auch in wissenschaftlichen (Qualifikations-)Arbeiten oder der Tagespresse. Auch hier gilt allerdings, wie wir bereits an anderer Stelle formuliert haben: „Die jenische Kultur wird im mehrheitsgesellschaftlichen Diskurs nur in jenen Momenten sichtbar, in denen sie den Weg der Macht quert“[6] .

Der Diskurs über Jenische

„Die Gemeinde bezahlt derzeit für das Kind monatlich 20 S. Wo die Eltern sind, kann nicht gesagt werden, wahrscheinlich auf Lug und Trug in Tirol oder Salzburg“, schreibt die Gemeinde Karres im Oktober 1937 an die Bezirkshauptmannschaft Imst. Eines der unzähligen Beispiele, in denen sich Gemeinden über die „Last“ beschweren, für die dort heimatzuständigen Armen aufkommen zu müssen. Die Hoffnung vieler Bürgermeister, die „Fahrenden“ könnten ihr Leben auf eine Art beschreiten, die es ihnen ermöglicht, für ihren Lebensunterhalt selbst aufzukommen, stand im Widerspruch zu den erlassenen Gesetzen. Indem man Jenischen etwa den Zugang zu Wandergewerbescheinen erschwerte, nahm man ihnen die Lebensgrundlage und drängte sie in die Kriminalität. Um das Überleben der Familie zu sichern, wurden Waren und Dienstleistungen – zumal diese von der sesshaften Bevölkerung durchaus geschätzt wurden – ohne formale Berechtigung angeboten.  

Die Ansicht, die prekären Lebensverhältnisse jenischer Familien seien nicht sozioökonomischen Ursprungs, sondern würden sich aus ihrer vermeintlich minderwertigen Erbanlage begründen, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschend in der Rassenbiologie. Die moderne Wissenschaft wurde damit Erfüllungsgehilfin der Behörden, wie Elisabeth Grosinger schreibt: „Stumpfl[7] baute auf eine intensive Zusammenarbeit mit den Behörden, die seine ,objektiven‘ Forschungsergebnisse zur wissenschaftlichen Untermauerung ihrer rassehygienischen Maßnahmen nutzen konnten.“[8] Das Wirken und die Terminologie des Instituts für Erb- und Rassenbiologie lässt sich in Diplomarbeiten und Dissertationen bis in die 1980er Jahre nachweisen und findet seinen Resonanzboden in klassischen bürgerlichen Vorurteilen und Klischees. Dort ist etwa „von ‚häufigen Schlägereien‘, ‚starkem Triebleben‘, ‚hemmungslosem Leben‘, ‚Schonzeit‘(!) oder ‚natürlicher Auslese‘ die Rede“[9] – Jenische werden als außerhalb der Norm stehend, als „asozial“ und letztlich als Problem für das Funktionieren der Gesellschaft dargestellt.

Die Berichterstattung der Zeitungen arbeitet an der Konstruktion dieses Stereotyps und an der Diffamierung jenischer Familien – oftmals aufgrund nur marginaler Delikte – mit. Darin drückt sich jedoch nicht nur der Ruf nach „Recht und Ordnung“ aus, Jenische dienen auch als Projektionsflächen für eigene unterdrückte Triebe und Wünsche, womit ihr häufig beschwerliches und armes Dasein als „ursprünglich“ und „freiheitsliebend“ romantisch verklärt wird: „Im Karrnerleben ruht ein Stücklein übrig gebliebener mittelalterlicher Poesie! (…) Ein Freiheitsdrang, eine innere Auflehnung gegen alles, was der Knechtschaft nur im Entferntesten ähnlich sieht, bildet den Grund zu diesen ziel- und planlosen Wanderzügen. Der eigentliche Dörcher ist auf seinen Vagabundenstand stolz wie ein König!”[10]

Vereinzelte wohlmeinende Darstellungen können nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass das Bild des Jenischen als „Problem“ vorherrscht. Und „[w]er Menschen als Problem betrachtet, ruft meist nach eliminatorischen ,Lösungen‘. Das ist so von A bis Z, vom ,Ausländerproblem‘ bis zum ,Zigeunerproblem‘“.[11] Diese Materialien nur zu sammeln und unkritisch zu reproduzieren, war für uns aus nachvollziehbaren Gründen kein gangbarer Weg. Aufgrund der mündlichen Tradition fehlen jenische Schriftstücke, mit denen man die Quellen kontrastieren oder kontextualisieren könnte.

Etwas anderes erzählen…

Für Dagmar Brunow handelt es sich bei Erinnerung um einen „dynamische[n] Prozess (…), der einer ständigen Rekontextualisierung und Neubewertung von Informationen unterliegt und der Vermittlung bedarf. Archivieren ist somit nicht gleichzusetzen mit Erinnerung, Aufbewahrung allein erzeugt noch kein kulturelles Gedächtnis.“[12] Kunst und Kultur ermöglichen hier Formen der Welterkenntnis und Vermittlung, die über die Möglichkeit der Wissenschaft hinausgehen und das Alltagserleben transzendieren.

So erlaubt uns Toni S. Pescosta, persönlich an einer Gerichtsverhandlung über das Schicksal des jenischen Jakob V. teilzuhaben und das gesellschaftliche Klima dieser Zeit nachzuempfinden:

„Auf dem Richterpult liegt ein Akt, auf dem die Vorstrafen des Jakob V. vermerkt sind. In Summe sind es 24, davon die meisten wegen Bettel und wegen Verstoß gegen die Gewerbeordnung, einige auch wegen öffentlicher Gewalttätigkeit. Was soll’s. In Anbetracht des Alters von Jakob V., 52 Jahre, sind es gar nicht so viele. Nicht einmal eine Abstrafung alle zwei Jahre. Und der Richter und die anwesenden Zuschauer zeigen sich auch nicht sonderlich überrascht. Als Karrner hätte man von ihm auch nichts anderes erwartet. Vorstrafen und Karrner gehören gewissermaßen zusammen. Das weiß man.“[13]

Einen künstlerischen Zugang hat auch das Jenische Archiv mit einem ersten großen Projekt gewählt. In den digitalen Graphic Novels von „re:framing jenisch“[14] stellen die Autorin Simone Schönett und die Illustratorin Isabel Peterhans Szenen aus verschiedenen Epochen jenischen Lebens dar, die mit historischen Archivalien und biografischen Interviews aus einem Oral History-Projekt verbunden werden, um den ,objektiven‘ historischen Fakten die Nahperspektive subjektiver Erfahrung gegenüberzustellen und die Geschichtsschreibung über Jenische kritisch zu befragen.

Als Forschender, Schriftsteller und entschlossener Aktivist für die Sache der Jenischen hat Romed Mungenast bis zu seinem frühen Tod im Jahr 2006 wichtige Grundsteine für das Schließen der Leerstelle im kollektiven Wissen über Jenische gelegt und sich somit vehement gegen das erzwungene Verschwinden gestellt. Bis heute lassen sich eine Reihe kritischer und selbstermächtigender Projekte und Initiativen direkt oder indirekt auf sein Schaffen zurückführen. Durch die Rekontextualisierung bestehender Archivalien, künstlerische Interventionen und Vermittlungsarbeit trägt das Jenische Archiv dazu bei, den Erzählungen der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Obrigkeiten kritisch zu begegnen und hegemoniale Narrative über Jenische zurechtzurücken.

 

Bernhard Oskar Schneider hat Politikwissenschaft und Philosophie studiert und arbeitet mit der Initiative Minderheiten am Aufbau des »Jenischen Archivs«. Unter anderem als Radiomacher, Moderator und Schreibender ist er in unterschiedlichen politischen und kulturellen Kontexten tätig.

Michael Haupt, Studium der Erziehungswissenschaften in Innsbruck, ist Geschäftsführer des Innsbrucker Büros der Initiative Minderheiten, der Trägerin des »Jenischen Archivs«.


[1] Siehe auch Artikel von Christine Riccabona in diesem Heft.
[2] Thomas Huonker: „Ich habe mein Leben geändert.“ Romed Mungenast im Gespräch. In: M. Haupt, E. Hessenberger (Hg.): Fahrend? Um die Ötztaler Alpen. Aspekte jenischer Geschichte in Tirol. Innsbruck 2021, S.179.
[3] Vgl. Herbert Kopp-Oberstebrink: Arbeit am Archiv. Formen und Funktionen von Archiven zwischen Begriff und Metapher. In: F. Schmieder/ D. Weidner/H. Kopp-Oberstebrink (Hg.): Ränder des Archivs: Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf das Entstehen und Vergehen von Archiven. Berlin 2016, 15–46.
[4] Aus dem ersten Punkt des “Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare”, der 1996 von der Generalversammlung des Internationalen Archivkongresses in Peking angenommen wurde und vielen Archivverbänden weltweit als ethisches Grundsatzdokument dient.
[5] Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Interpretation. Berlin 1997, S. 38.
[6] Bernhard Schneider/Michael Haupt re:framing jenisch – Zum Projektstart des Jenischen Archivs. In: Gaismair Jahrbuch 2023 (wird im Herbst 2022 veröffentlicht).
[7] Friedrich Stumpfl war Professor für Erb- und Rassenbiologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Innsbruck.
[8] Elisabeth Grosinger: Pseudowissenschaftliche Forschungen über Jenische während und nach der NS-Zeit. In: Gaismair-Jahrbuch 2006: Am Rand der Utopie. Innsbruck o.J,, 102–12, S. 102.
[9] Roman Spiss: Wissenschaft und Jenische in Tirol. In: Romedius Mungenast (Hg.) Jenische Reminiszenzen. Geschichte(n), Gedichte. Landeck/Tirol 2003, S. 8.
[10] Österreichische Alpenpost. Illustrierte Zeitung aus den Ostalpen, 25.06.1903, S. 280f.
[11] Thomas Huonker: Jenische in der Schweiz. Endlich respektiert, statt ausgerottet. In: Jenische Reminiszenzen. S. 17.
[12] Andrea Neidhöfer/Margret Schild: Wie archiviert man immaterielles Kulturgut? Bericht über die internationale Tagung ‚Archiving the unarchivable – das Unarchivierbare archivieren‘ in Kassel, 22.-24. November 2018. In: AKMB – news 1/2019, S. 58-65, hier S. 58.
[13] Toni S. Pescosta: Momentaufnahme 1937. In: Romedius Mungenast (Hg.): Jenische Reminiszenzen. S. 66. Vgl. für andere Beispiele der literarischen Auseinandersetzung auch die Empfehlungen in der Bücherliste.
[14] Das Ergebnis wird Ende 2022 auf der Website des Jenischen Archivs unter www.jenisches-archiv.at veröffentlicht.


»re:framing jenisch« – Projektpräsentation

17. Dezember 2022 | 18:00 Uhr | Kulturbogen55, Viaduktbogen 55 Innsbruck

Das Zerrbild über die lange Zeit als „Karrner“ oder „Laninger“ diffamierten Jenischen zurechtrücken will die Graphic Novel »Novus Baloch, novus Cholom, Schein-Schallerei. Kein Himmel, kein Traum, Tagesmusik«, die am 17. Dezember 2022 ab 18:00 Uhr im Kulturbogen55 in der Innsbrucker Ing.-Etzel-Straße 55 vorgestellt wird.

In sechs Episoden erzählen die jenische Schriftstellerin Simone Schönett und die Comiczeichnerin Isabel Peterhans aus einer fiktiven Familiengeschichte und spannen dabei einen Bogen von der Verfolgung Jenischer zur Zeit des Nationalsozialismus bis hin zu den Anerkennungsbestrebungen als Volksgruppe in der Gegenwart. Dabei nehmen sie Bezug auf historische Quellen, die im vergangenen Jahr durch das Jenische Archiv ausgehoben und kritisch aufbereitetet wurden.

„Die Geschichte über Jenische ist eben genau das: eine Geschichte über sie! Historische Quellen von Jenischen fehlen aufgrund ihrer mündlichen Überlieferungskultur. Das schriftliche Wissen, das im kulturellen Speicher der Mehrheitsgesellschaft existiert, ist vor allem eines der Obrigkeiten und spiegelt die Intention wider, die Lebensweise der Fahrenden zum Verschwinden zu bringen“, so der Politikwissenschafter Bernhard Schneider und Michael Haupt, Geschäftsführer der Initiative Minderheiten Tirol, auf deren Initiative das Jenische Archiv im Herbst 2021 gegründet wurde.

Programm

Projektpräsentation mit Ausstellung von Illustrationen und Archivmaterialien

Live Vertonung einer Episode der Geschichte von Rudi Katholnig (Musik) und Simone Schönett (Text)

Gemütlicher Ausklang

 

 

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