Es ist eines seiner bekanntesten Zitate, und doch herrscht bis heute keine Einigkeit über dessen Bedeutung. G. W. F. Hegel, der Philosoph des Weltgeistes, schrieb folgende Sätze, die für den Geist der Nachwelt vieldeutig bleiben:
„Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“[1]
Einer der Deuter dieses Zitats ist der marxistische Historiker Eric Hobsbawm, der u. a. eine großartige Geschichte des Nationalismus verfasst hat. Im Boom der Nationalismus-Forschung, der ab Mitte der 1980er Jahre eingesetzt hat, erblickt er einen Beweis dafür, dass das erforschte Phänomen seinen Zenit bereits überschritten habe. Hegels Minerva-Eule kündige also den Anfang von einem Ende an: „Es ist ein gutes Zeichen, daß sie ihre Kreise inzwischen über Nationen und Nationalismen zieht.“[2]
Ich bin mir nicht sicher, ob diese kluge Interpretation auch eine gute Diagnose bzw. Prognose für den Nation-Nationalismus-Komplex abgibt oder – leider – Wunschdenken bleibt. Wir stehen mehr als 30 Jahre nach Hobsbawms Publikation einem weltweit sogar erstarkten Nationalismus gegenüber.
In einem anderen Zusammenhang scheint mir allerdings diese Deutung des Eulenflugs gut anwendbar zu sein. Ich denke an ein Phänomen, auf das in letzter Zeit mit verschiedenen Stichworten hingewiesen wurde: Moralismus, Politik der Gefühle, Befindlichkeitspolitik, Schamkultur … Ich selbst habe hier einige Male unter dem Begriff „Politik der Zeichen“ davon gesprochen – von einer Variante der Politik, die mit der dreifaltigen Strategie „Verweigerung-Empörung-Verzicht“ verflochten ist und die Tendenz aufweist, das Politische zu privatisieren, anstatt das Private zu politisieren. Synchronie statt Kollektiv, so mein weiterer Befund, bildet den Modus der massenhaften Verbreitung und Umsetzung der Politik der Zeichen, und ihr Zauberwort ist Identität – statt Gleichheit.
Wie aber hängt diese Politik nun mit der Eule von Minerva zusammen?
Seit den 1960er Jahren ist viel über den „Kulturimperialismus“ gesagt und geschrieben worden, wobei den USA die Hauptrolle des Bösewichts zufiel. Coca-Cola und McDonald’s, Popmusik und Hollywood, Anglizismen und Kaugummi galten Jahrzehnte lang als Merkmale des imperialistisch propagierten American Way of Life. Die 1980er Jahre markierten den Einsatz eines Gegengewichts zur imperialen Lebensweise durch die „europäische Kultur“ und die verschiedenen „World“-Segmente (etwa World Music). Die sogenannte postmoderne Philosophie französischer Provenienz war womöglich die geistige Leuchtrakete dieser Neuorientierung, das Anfang 2000 veröffentlichte Buch Empire von Antonio Negri und Michael Hardt wohl deren expliziter Höhepunkt, und den Soundtrack dazu lieferte Manu Chao mit seinem Lied Clandestino.
Mag sein, dass viele junge Menschen nicht nur in Europa, sondern weltweit ihren Alltag nach wie vor so zu gestalten suchen, als wären sie Figuren in einem Hollywood-Film. Mag sein, dass ihre Sprache fast zur Hälfte aus Anglizismen besteht und ihre Musik mehr R’n’B ist als in den USA der 1940er. Mag auch sein, dass diese jungen Leute sogar ihre Hochzeiten minutiös nach dem vorgeschriebenen Ablauf einer US-amerikanischen Wedding Party inszenieren. Der „Kulturimperialismus“ hat dennoch inzwischen mächtige Konkurrenz bekommen. Der K-Pop ist mittlerweile ebenso in der Jugendkultur verankert wie die koreanische Küche. Die – paradoxerweise US-amerikanischen – Streamingdienste bieten spanische, indische oder türkische Serien an, die fast ebenso viele Zuseher*innen finden wie die „kulturimperialistischen“.
Währenddessen avancierten die Cultural Studies, die kulturelle Entwicklungen in einem klassenbezogenen und/oder ethno-politischen Kontext analysieren, zum Königsfach der Geisteswissenschaften – als wollte Minervas Eule das Ende einer kulturellen Ära augenzwinkernd einläuten. Zeitgleich begann das Feld des Politischen von Gepflogenheiten des US-amerikanischen Demokratieverständnisses überflutet zu werden: Begriffe, Selbstverständnis, Aktionsformen, ja, sogar soziale Gruppen und Akteure der Politik werden seit gut vier Jahrzehnten zunehmend an den Vereinigten Staaten ausgerichtet. Politische „Normalität“ der europäischen Wohlfahrtsstaaten, die sich in Sozialpartnerschaft, Arbeitskampf oder Parteiorganisationen ausdrückte, wurde allmählich von Identitäts- und Anerkennungspolitik(en) überlagert, die auf der sozialen Entität von „Communities“ beruhen. Respect wurde zur Währung gerechter Umverteilung; Mikroaggression und Triggern gelten fast schlimmer als Ausbeutung.
Über diese Politik der Zeichen gibt es eine inzwischen schier unübersichtliche Menge an Fachliteratur, täglich erscheinen gefühlt tausend Bücher und Aufsätze zu strukturellem Rassismus, systemischer Transphobie oder aber zu „Diktatur des Wokeness“. Auch in Feuilleton und öffentlichen Debatten sind „kulturelle Aneignung“ oder „Cancel Culture“ mittlerweile Pflichtthema.
Zwei Fragen stellen sich. Erstens: Hat das Empire mit seiner hegemonialen Kultur so weit ausgedient, dass sie dem „Rest der Welt“ nur mehr eine durchmoralisierte Version von Politik (der Zeichen) als Vorbild anbieten kann? Zweitens: Kann der Boom akademischer Selbstartikulation und medialer Behandlung dieser Politik zugleich ein Indikator dafür sein, dass sich die Eule der Minerva nach der Kultur nun auch langsam der Politik zuwendet?
[1] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede. In: Werke. Band 7, Frankfurt a. M. 1979, S. 11–29. Online: http://www.zeno.org/nid/20009181156
[2] Eric J. Hobsbawm (1991): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt a. M./New York 1991, S. 221.
Die Kolumne “Stimmlage” erschien in der STIMME Nr. 124/2022.
Hakan Gürses ist in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Von 1993 bis 2008 war er Chefredakteur der Zeitschrift Stimme von und für Minderheiten, von 1997 bis 2011 Lektor und Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien. Seine Kolumne “Stimmlage” erscheint regelmäßig in der STIMME.