Minoritäre Allianzen damals – und heute

Im November 2022 veranstaltete die Initiative Minderheiten eine Tagung im Wiener Volkskundemuseum zum Thema „minoritäre Allianzen“. Unter diesem programmatischen Namen schlägt die Organisation seit dem „Minderheitenjahr 1994“ einen Orientierungsrahmen für politisches Handeln vor. Interessant war für mich auf der Tagung zu beobachten, wie anders heute, nach knapp 30 Jahren, eine junge Generation von Minderheiten-Aktivist*innen diesen Terminus aufnahm. Wir hatten ihn jedenfalls in einer besonderen Zeit und politischen Konstellation eingeführt.

Am Anfang der 1990er Jahre war die Welt plötzlich unipolar, es gab nur mehr den „Westen“, und für die außerparlamentarische Politik schien die „Klasse“ als zentrale Achse von Kämpfen ziemlich lädiert. Dafür bildeten die sogenannten neuen sozialen Bewegungen nach und nach den Hintergrund neuartiger politischer Theorien und Organisationen. Viele partikulare emanzipatorische Gruppen brachten ihre Forderungen in die politische Agenda ein, ohne dafür ein universal gültiges und zwingendes „Gesetz“ vorweisen zu müssen. Es ging um ihre Rechte, und sie fanden die Legitimierung dafür in ihrer eigenen Geschichte der Diskriminierung und Unterdrückung. Kritik am Eurozentrismus, am kolonialen Erbe und dem Orientalismus ging mit allmählich entstehenden transversalen Verbindungen zwischen den sozialen Bewegungen einher.

Unterdessen war die österreichische Gesellschaft offiziell und öffentlich mit dem Hauptthema „Ausländer“ beschäftigt. Der politisch, medial sowie wissenschaftlich geführte Diskurs über Migration, vor allem Migrant*innen, bestimmte die Tagesordnung. Einen der Höhepunkte dieser polarisierenden Thematik bildete wohl das „Ausländervolksbegehren“ der FPÖ unter dem Titel „Österreich zuerst“, welches Anfang 1993 von fast 420.000 Personen unterschrieben wurde. Der erste Punkt lautete dabei: „Österreich ist kein Einwanderungsland.“ Die lauteste Reaktion darauf kam von der frisch gegründeten Plattform SOS Mitmensch: die Demonstration „Lichtermeer“ im Jänner 1993, an der rund 300.000 Personen teilnahmen.

Davor und lange danach blieb hierzulande das paternalistisch ausgeprägte und anwaltschaftlich umgesetzte Hilfe-Konzept ausschlaggebend. Eine Art „Licht ins Dunkel für ausländische Mitbürger“ war die Normalität. Die Initiative Minderheiten wollte just diese Anwaltschaft nicht für sich beanspruchen; die Idee war, eine Plattform bereitzustellen, auf der sich die Minderheiten selbst ausdrücken, ihre Anliegen thematisieren und über ihre Gemeinsamkeiten, Überlappungen, ähnliche Interessen und Ziele, aber auch Differenzen diskutieren sollten. Keine Minderheitenpolitik, sondern eine Politik der Minderheiten, die auf einer minoritären Allianz gründete.

25 Briefbomben, drei Sprengfallen, vier ermordete und 13 zum Teil schwer verletzte Menschen zwischen Dezember 1993 und Dezember 1996, dieser Terror der „Bajuwarischen Befreiungsarmee“ (die sich am Ende als ein Einzeltäter entpuppen sollte) gegen Minderheitenangehörige und ihre Verbündeten sowie die zunehmend zum Rassismus neigende „Gesamtstimmung“ und die immer strikter werdenden „Fremden- und Aufenthaltsgesetze“ machten eine Art Vernetzung zum Selbstschutz erforderlich. Auch hier zeigte sich die Notwendigkeit einer Allianz der Minderheiten. Doch wer sollte sich mit wem vernetzen?

Die Initiative Minderheiten hatte bereits bei ihrer Gründung klargestellt: Unter dem Terminus Minderheit verstand man neben den autochthonen Volksgruppen durchweg auch soziale, sexuelle oder Religionsgruppen, denen Diskriminierung widerfuhr – und Migrant*innen, die sogenannten neuen Minderheiten.

Diese Definition war allerdings für die Öffentlichkeit nicht selbstverständlich. Auch ein Teil der Volksgruppen-Vertreter*innen lehnte es ab, mit diesen Gruppen in einem Atemzug, geschweige denn unter einem gemeinsamen rechtlich-politischen Terminus erwähnt zu werden. Auch das machte für uns das Forcieren einer minoritären Allianz erforderlich: zur gegenseitigen Anerkennung diskriminierter Gruppen als Minderheiten. (Zeit-)Historische Gemeinsamkeiten, Diskriminierung als gemeinsame Erfahrung, Notwendigkeit einer selbstbestimmten Politik … Diese Argumente führten wir für die Allianz ins Treffen. Das wichtigste Argument war aber ein strukturelles.

Allianzen können unterschiedliche Motive haben – etwa ein normatives Motiv wie Solidarität; ein pragmatisches wie das Bündeln der knapp bemessenen Kräfte; ein strategisches wie der Wille, sich nicht spalten zu lassen, etc. Der wichtigste Beweggrund für die minoritäre Allianz war und ist jedoch aus meiner Sicht eine strukturelle Mengenlehre.

Das Wort „Minderheit“ verweist auf keine essenzielle Gemeinschaft mit besonderen Eigenschaften, sondern sie ist eine Kategorie, die ein Verhältnis ausdrückt. Beide Seiten des Verhältnisses, die Minderheit wie die Mehrheit, können nur angesichts der jeweils anderen Seite begriffen werden. Wenn eine Gruppe von Personen aufgrund verschiedener Herrschaftsbeziehungen, Machtstrategien, politischer Kalküle oder sozialer Mechanismen minorisiert wird, so wird die entsprechende Gegengruppe aus denselben Motiven majorisiert. Minderheit und Mehrheit sind also keine festen Gruppen oder Gemeinschaften, sondern Funktionen, die von wechselnden Personengruppen in wechselnden Verhältnissen ausgeübt werden. Eine queere Person kann im nationalen/ethnischen Sinne der Mehrheit angehören und etwa bei der Diskriminierung von Migrant*innen mitspielen – und vice versa.

Wenn ich potenziell Angehöriger einer Minderheit und einer Mehrheit zugleich sein kann, ist eine konsequente Politik der Minderheiten nur durch eine Allianz mit anderen Minderheiten zu bewerkstelligen – dass ich also mit meinen potenziellen Gegner*innen gemeinsam gegen eine Struktur kämpfe, welche auch Macht genannt werden kann. Das ist wohl nicht dasselbe, was heute unter allyship verstanden wird.

Kann jener gegenwärtige politische Zugang, der eine essenzielle Mehrheit (weiß, heterosexuell, dem Mittelstand angehörend, männlich …) als quasi natürliche Gegnergruppe festlegt, mit der minoritären Allianz etwas anfangen?


Die Kolumne “Stimmlage” erschien in der STIMME Nr. 125/2022.

Hakan Gürses ist in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Von 1993 bis 2008 war er Chefredakteur der Zeitschrift Stimme von und für Minderheiten, von 1997 bis 2011 Lektor und Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien. Seine Kolumne “Stimmlage” erscheint regelmäßig in der STIMME.

 

 

 

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