Idomeni – Die Geschichte von Überlebenskünstler*innen

Die Zeltstadt in Idomeni, einem Dorf mit ca. 150 Einwohner*innen an der griechisch-mazedonischen Grenze, wurde zum Inbegriff für die „hässlichen Bilder“, ohne die es – so der österreichische Bundeskanzler einer extrem rechten, rechtskonservativen Regierung – im Zuge der sogenannten „Schließung der Balkanroute“ nicht abgehen würde. Zwischen Februar und Mai 2016 bewohnten zwischen 10.000 und 15.000 geflüchtete Menschen diesen Ort, obwohl er für nur maximal 1.500 Personen vorgesehen war. Sie mussten sich dort ansiedeln, nachdem die sogenannte „Schließung der Balkanroute“ im Jänner 2016 von der österreichischen Bundesregierung forciert, eine Einreisebeschränkung nach Österreich (Stichwort: „Obergrenzen“) verhängt und damit eine Kettenreaktion in anderen Ländern in Gang gesetzt worden war.

Der Text- und Bildband über das Lager in Idomeni macht einerseits die unwürdigen Verhältnisse sichtbar, denen Menschen ausgesetzt waren: ein Leben voller Unsicherheit, ohne grundlegende Versorgung und unter katastrophalen sanitären Zuständen. So mussten sich beispielsweise durchgerechnet 300 Personen eine Toilette teilen, pro 500 Personen gab es eine Dusche. Für besonders schutzbedürftige Personen aufgrund von z.B. von Alter, Krankheit, Behinderung oder Schwangerschaft war das Überleben in Idomeni eine tägliche Herausforderung. Bei der Essensausgabe durch humanitäre Organisationen wurde beispielsweise nur eine Portion pro Person ausgeteilt, wer sich aus welchen Gründen auch immer nicht in die lange Warteschlange einreihen konnte, blieb auf der Strecke. Was hier passierte, war – so ein Zitat aus der Publikation von Ärzte ohne Grenzen – „eine völlig vorhersehbare Krise, ausgelöst durch absichtliche Vernachlässigung von Seiten europäischer Regierungen und Institutionen“ (S. 36).

Beim Lesen der Texte, die alle zweisprachig Englisch-Deutsch vorliegen, und beim Betrachten der Bilder wird aber auch der Blick auf einen anderen Aspekt gerichtet: „Wenn die Fotos in diesem Buch eine Geschichte erzählen, dann ist es die Geschichte von Überlebenskünstler*innen“ (S. 82) Die Leser*innen/Betrachter*innen werden nicht nur in die Lage versetzt zu erahnen, was die Verweigerung grundlegender Menschenrechte bedeutet, sondern können auch ein Gespür dafür entwickeln, mit welcher Widerstands- und Handlungsfähigkeit sich die Bewohner*innen des Lagers ein Stück weit Gestaltungsmacht und Selbstbestimmung über ihr eigenes Leben zurückerobert haben. Improvisationen aller Art und alltägliche Routinen, Haare schneiden, Wäsche waschen oder selber Kochen, miteinander ein Fest zu feiern oder politischen Protest zu artikulieren sind auch Ausdruck der Wiedergewinnung von Handlungsmacht unter unwürdigen Bedingungen – ein wenig Herstellung von Normalität und Wiedergewinnung von Kontrolle über das eigene Leben, wie die Autorinnen betonen.

Die Fotografien kontrastiert Michael Haupt, Geschäftsführer der Initiative Minderheiten Tirol, die diesen Band herausgegeben hat, mit gängigen Bildern: „Beim Blick auf Aufnahmen von Idomeni wurde mir wieder einmal bewusst, was uns von Fernseh- und Zeitungsbildern vorenthalten oder anders kontextualisiert wurde. Die Bilder kollaborierten mit entmenschlichenden Diskursen über vermeintliche ‚Flüchtlingswellen‘, die über uns hereinzubrechen drohten.“ (S. 5) Ganz anders der Blick in dem Text- und Bildband. Solcherart Innensichten verdanken sich auch der Freiwilligenarbeit der Fotografin Alkisti Alevropoulou-Malli in Idomeni und dem gemeinsamen Engagement beider Autorinnen für geflüchtete Menschen auf der Insel Lesbos. Texte und Zitate sind in leicht verständlicher Sprache prägnant gehalten, informativ und kurzweilig – die Fotografien berühren die LeserInnen auf vielfältige Weise. Die Publikation verdient zusammenfassend eine explizite Leseempfehlung. Besonders geeignet ist sie auch für Menschen, die zwar zu allem und jeden in der Flüchtlingsfrage eine Meinung zu haben scheinen, aber sich noch nie auf die Erfahrung eingelassen haben, die Nöte und das Leben der Anderen in den Blick zu nehmen.


Alevropoulou-Malli, Alkisti; Walch, Nina: Idomeni. Waiting for Home. Herausgegeben von der Initiative Minderheiten Tirol

Mandelbaum Verlag Wien 2020, ISBN 978-3854768432, 92 S., Euro 18,-

 

Diese Rezension erschien erstmals in der aep-informationen Nr. 2/2020

 

 

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