Lafala und die minoritäre Globalisierung

Rechtzeitig zu 100 Jahre Behindertenbewegung erschien dieses Frühjahr mit Romance in Marseille ein erstaunlicher Roman, der fast ein Jahrhundert auf seine Veröffentlichung warten musste. In den späten 1920er Jahren, als sich in Österreich die ersten Behindertenorganisationen formierten, trieb sich der jamaikanische Kosmopolit Claude McKay an den Docks von Marseille herum und lernte da einen beinamputierten nigerianischen Seemann kennen, den er bald darauf als Lafala zum Protagonisten seiner unkonventionellen „Romanze“ machte.

Im Hafenmilieu von Marseille, einer aus allen Kontinenten gespeisten Gesellschaft von Seeleuten, Hafenarbeitern, Prostituierten, Zuhältern, Musiker_innen, Barbetreibern, Dieben, Dealern und kommunistischen Gewerkschaftern, die der Autor der Harlem Renaissance bereits in seinem Roman Banjo (1929) liebevoll und mit Witz gezeichnet hatte, kämpfen beinahe alle ständig ums Überleben  – und gleichzeitig um den nächsten Drink, einen Tanz, etwas Liebe oder ein neues Parteimitglied: „Magnificent Mediterranean harbor. Port of seamen’s dreams and their nightmares […], port of the fascinating, forbidding and tumultuous Quayside against which the thick scum of life foams and bubbles and breaks in a syrup of passion and desire.”

Wenn in dieser Gesellschaft einer zu Geld kommt, dann sorgt das für Clusterbildung. Vor allem in Kneipen wie dem Tout-va-Bien, wo all die Leute vom Kai abends zusammenkommen. Lafala, der als guter Tänzer bekannt war, bevor er sich als versteckter Passagier nach Amerika einschiffte, von der Besatzung entdeckt und für den Rest der Überfahrt in einen kalten Raum gesperrt wurde, so dass ihm die Beine erfroren und in New York bis zu den Knien amputiert werden mussten, kommt vergleichsweise wohlhabend in die südfranzösische Stadt zurück. Ausgestattet mit modernen amerikanischen Prothesen und einer ansehnlichen Summe Geldes, die ein findiger Anwalt als Entschädigungszahlung der Schifffahrtslinie herausgeschlagen konnte, will Lafala seine Affäre mit der marokkanischen Prostituierten Aslima in eine solidere Verbindung überführen, deren Zukunft in seiner westafrikanischen Heimat liegen soll. McKay schildert alle Facetten der ambivalenten, durch Verlust und Gewinn geprägten Lage des Mannes, der von Neidern als „Pied-Coupé“ verhöhnt wird, von anderen hofiert und ausgenutzt wird. Er schildert sie bis in die erotischen Dimensionen seiner Behinderung: „His stumps of legs were fondled and caressed as if they were honeysticks.”

Die relativ unromantische Romanze zwischen Lafala und Aslima, die nebenbei mit ihrer Kollegin und Konkurrentin La Fleur Noire rummacht, während Lafalas Dollars auch in manch andere Liebesdienste fließen, ist eingebettet in ein Geflecht aus hetero- und homosexuellen Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen aus Europa, Afrika und den Amerikas. Dabei ist McKays soziale Welt immer heteroglott und mehrsprachig. Man hört die unterschiedlichen Sprechweisen des Englischen, Französischen und anderer Sprachen, die sich unter den Bedingungen von Kolonialismus und Welthandel, Back-to-Africa-Bewegung und Agitation der Kommunistischen Internationale in kosmopolitischen Hafenstädten treffen und mischen.

Wie leichtfüßig und weithin ohne Moral McKay sein Figurenensemble in den Kräfteverhältnissen von Klasse, Race, Dis/ability und diversen sexuellen Orientierungen ansiedelt, ist beeindruckend. Das kann nur jemand, der dies alles wirklich kennt. McKay, der aus Jamaica kommend zunächst in Harlem seine künstlerische und politische Heimat schuf, hielt sich Anfang der 1920er Jahre lange in Russland auf, wo er zum Ehrenmitglied des Moskauer Sowjets ernannt wurde und zur rassistischen Gesellschaft der USA publizierte. Trotz seiner literarischen Erfolge musste McKay – einer der meistgereisten Schriftsteller der Zwischenkriegszeit und Hauptvertreter der vagabundierenden Internationale (Brent Edwards) ­– in Deutschland, Frankreich, Spanien und Nordafrika immer wieder niedere Jobs annehmen, u.a. als Aktmodell an einer Pariser Kunstakademie, und bezog daraus sein reiches Repertoire an zugleich alltäglichen wie grenzüberschreitenden Protagonist_innen.

Dass Romance in Marseille erst neunzig Jahre nach seiner Niederschrift veröffentlicht wurde, mag auch den nicht zu jeder Zeit gefragten Charakteren seiner literarischen Welt und ihrer oft „vulgären“ Ausdrucksweise geschuldet sein. Dass heute noch keines der Bücher von Claude McKay auf Deutsch erhältlich ist, wird sich allerdings schneller ändern müssen.


Claude McKay, Romance in Marseille, New York: Penguin Books 2020. 165 Seiten.

Foto: Claude McKay spricht im Thronsaal des Kreml, Moskau 1922

Christian Kravagna ist Kunsthistoriker und Professor für Postcolonial Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien. Sein Buch Transmoderne: Eine Kunstgeschichte des Kontakts (2017) untersucht die befreiungspolitischen Potenziale von Kontaktzonen, wie sie Claude McKay beschreibt.

 

 

 

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