Bei manchen Büchern fragt man sich, warum sie einem erst jetzt in die Hände fallen. „América“ von T.C. Boyle ist für mich ein solches Buch. Bereits 1996 in der deutschsprachigen Übersetzung erschienen, verhandelt es ein Thema, das nicht erst seit Trump und Orban existiert, aber zur Zeit aktueller ist denn je: den Bau von Grenzzäunen und Mauern um Migrant_innen und Asylsuchende abzuhalten.
Zwei Familien treffen in dem Roman aufeinander: auf der einen Seite Kyra und Delaney, ein liberales, umwelt- und ernährungsbewusstes Paar, das in einem gesicherten Wohnpark am Rand von Los Angeles lebt, auf der anderen Seite die hochschwangere América und ihr Mann Cándido, illegalisierte Einwanderer_innen aus Mexiko, die unter schlimmsten Bedingungen im nahen Canyon leben. Während der Fahrt zum Altglascontainer läuft Cándido in Delaneys Auto. Dieser bringt ihn jedoch nicht zum Arzt, sondern steckt ihm 20 Dollar zu. Durch diesen Zusammenstoß prallen auch zwei Welten aufeinander und werden von Boyle in abwechselnder Perspektive erzählt. Als sowohl mexikanische Migrant_innen, als auch die Natur in Form von Coyoten und Feuerbrünsten immer näher rücken, bröckelt die liberale Fassade von Delaney und er ist einer derjenigen, der lautstark nach einer Mauer schreit, um seine „Gated Community“ abzuschirmen.
Die Dämonisierung einer ethnischen Gruppe verläuft hier nicht anders als in Europa, wo Einwanderer_innen ebenso mit Kriminellen und Gewalttätigen gleichgesetzt werden. Und wenn dieser Tage im Zuge der „Null-Toleranz“-Politik des amerikanischen Präsidenten an der US-Grenze zu Mexiko zur Abschreckung Eltern ihre Kinder weggenommen werden, um diese in separaten Lagern, Heimen und Pflegefamilien unterzubringen, wird diese Politik auf eine perverse Spitze getrieben. „The Tortilla Curtain“, wie das Buch im Original heißt, hat diese traurige Aktualität bereits vorweggenommen.
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