Die Illusion ist das zäheste Unkraut des Kollektivbewusstseins; die Geschichte lehrt, aber sie hat keine Schüler (Antonio Gramsci)
„Der Krieg ist dieser Tage wieder zur ‚einzigen Alternative‘ geworden. Wir befinden uns wieder einmal in finsteren Zeiten, in denen Militärparaden von Freizeitstrategen wie eine Morgendämmerung im Frühling beschrieben werden, die Faszination des Stahls und der Schaltkreise die grauen Zellen beschlagnahmt, die Zahl toter Menschen mit den Kosten der Kriegsführung verglichen wird. […]
In solchen Zeiten müssen sich die Pazifisten in geistige Katakomben zurückziehen, um nicht öffentlich ausgelacht und verpönt zu werden. Sie werden von der journalistischen Kriegsführung ‚nützliche Idioten‘ beschimpft, ‚Handlanger der Aggressoren‘, ‚blauäugige Anti-Rationalisten‘ und ‚grenzdebil‘. Und nachdem der Krieg von heute dem ‚Humanismus‘ verpflichtet ist […], gelten erklärte Pazifisten in der Öffentlichkeit als Helfershelfer von Feinden der Menschheit.“
Diese Sätze schrieb ich in den ersten Tagen des Jahres 1999, für meine Kolumne in der STIMME Nr. 30. Der „Kosovokrieg“ war gerade im Gange, der NATO-Einsatz mit Luftangriffen auf Serbien stand kurz bevor, und im Hintergrund lauerten die schlimmen Erfahrungen der „Jugoslawienkriege“ sowie des „Ersten Irakkriegs“.
In den letzten dreißig Jahren, seitdem nach Ende des Eisernen Vorhangs, somit des Kalten Kriegs, auch „das Ende der Geschichte“ deklariert worden ist, hat sich der „heiße“ und medial erlebbare Krieg (denn irgendwo ist immer Krieg, nur gibt es nicht für alle einen Platz in den Medien) etabliert. Damals wie heute beschleicht mich das verstörende Gefühl, dass ich wohl völlig falsch liegen muss, wenn sich schon so viele Leute aus meinem unmittelbaren Umfeld bei jedem neuen Angriff des „Westens“ auf irgendein Land für solch „gerechten Krieg“ aussprechen. Und es war und ist mir dennoch jedes Mal unmöglich, mich ihnen anzuschließen. Ich war und bin gegen den Krieg, trotz der zu erwartenden Gegenreaktion, wegen meiner Position für naiv bis gefährlich gehalten zu werden.
Ein wunderbarer Text mit dem Titel „Nachdenken über den Krieg“, den Umberto Eco im April 1991 geschrieben hatte und der als Buchartikel 1997 erschien (1998 auf Deutsch), verlieh mir damals die geistige Stütze, die oben zitierte „Stimmlage“ zu verfassen. Eco schrieb:
„Es gibt jedoch eine radikalere Art, den Krieg in rein formalen Begriffen zu denken, in solchen der inneren Kohärenz. Nämlich indem man über die Bedingungen seiner Möglichkeit nachdenkt, um zu dem Schluß zu gelangen, daß der Krieg deswegen nicht geführt werden darf, weil die Existenz einer Gesellschaft der Instant-Information und der schnellen Transporte, der ständigen interkontinentalen Migrationen, vereint mit dem Wesen der neuen Waffentechnologien, den Krieg unmöglich und widersinnig gemacht hat. Der Krieg steht heutzutage in Widerspruch zu den innersten Gründen, aus denen er geführt worden ist.“[1]
Umberto Eco lebt heute nicht mehr; inzwischen wurde auch der sichere Selbstmord unserer Spezies durch Zerstörung des eigenen Planeten als Gewissheit vorausgesagt; hinzu kamen 9/11 sowie mit Afghanistan und (wieder) Irak zwei neue Vietnams für die USA und die verbündeten Kriegsparteien; eine Pandemie zeigte uns jüngst die Grenzen des geheiligten (und in der Neuzeit revitalisierten) Programms, sich die Erde zu untertan machen zu wollen; sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist verpönt wie noch nie; die meisten jungen Menschen leben mittlerweile vegan und die meisten von ihnen halten schon Fleischkonsum für Mord – all dies ist seit Ende der 1990er Jahre geschehen.
Trotzdem gibt es heute wieder Krieg in unserer „Nähe“, und dieser darf laut dem Angreifer nicht einmal so heißen. Wieder beherrschen zwei Optionen, die Pro und Contra heißen, das heißt für die eine oder andere Kriegspartei, die öffentlichen Debatten. Warum es nicht eine dritte Option geben kann, wird mit Realismus begründet: Jetzt den Krieg beenden, hieße, die Ukraine Russland zu übergeben, somit auch unsere Werte aufzugeben.
Warum kann aber ein prinzipielles Nein zum Krieg nicht auch einen legitimen Standpunkt bilden? Warum wird man im besten Fall für blauäugig gehalten, wenn man auf Maßnahmen pocht, die ein baldiges Ende des Krieges bewirken sollen, statt auf weitere Waffenlieferungen und Durchhalteparolen?
„Es ist heute eine intellektuelle Pflicht, die Unmöglichkeit des Krieges zu proklamieren“, schrieb Eco. „Auch wenn es keine alternative Lösung gibt“ (S. 34).
Möglich ist diese pazifistische Position nur dann, würden wir uns auch und vor allem in Zeiten des „Friedens“, der ja nur einen Frieden für uns bedeutet, für das Ende aller Kriege einsetzen.
„Abgesehen von den spezifischen Gründen des aktuellen Kriegs; […] abgesehen davon, wer die eigentliche Schuld an dieser ‚militärischen Auseinandersetzung‘ trägt – es soll noch einmal daran erinnert werden […], daß es längerfristig keine Rechtfertigung für einen Krieg geben kann. Daß die einzige Legitimation des Krieges, wie auch der Argumentation jedes Kriegsbefürworters zu entnehmen ist, lediglich ein anderer Krieg darstellt. Daß es Kriege geben wird, solange es Kriege gibt. […] So betrachtet muß jede einzelne kriegerische Konfrontation allein deswegen verhindert werden, um zukünftige Kriege unmöglich zu machen.“
Diesen eigenen Sätzen von vor fast einem Vierteljahrhundert kann ich heute nur den Verweis hinzufügen: Die dritte Option, eine Welt ohne Kriege, gilt nur dann als realistisch, wenn wir sie zur Realität werden lassen.
[1] Umberto Eco, Vier moralische Schriften. München/Wien 1998, S. 21 f.
Die Kolumne “Stimmlage” erschien in der STIMME Nr. 123/2022.
Hakan Gürses ist Wissenschaftlicher Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung (ÖGPB). Von 1993 bis 2008 war er Chefredakteur der Zeitschrift Stimme von und für Minderheiten, von 1997 bis 2011 Lektor und Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien. Seine Kolumne “Stimmlage” erscheint regelmäßig in der STIMME.