guestauthor: Hakan Gürses

Von alten Monden und neuen Sternen

Nasreddin Hoca, wie er auf Türkisch genannt wird, ist eine humoristische Figur, die man im Raum vom Balkan bis Zentralasien kennt. Er soll im 13. Jahrhundert im Osmanischen Reich gelebt haben und weist Ähnlichkeiten etwa mit Till Eulenspiegel auf: ein schlagfertiger Volksgelehrter, der sich als dumm oder naiv gibt und anschließend lehrreiche Bonmots äußert. Diese sind im Laufe der Zeit zu geflügelten Worten geworden. So auch seine...

Kritik und Kultur

Ich fürchte, ich habe es nie geschafft, weder in politisch guten noch in schlechten Zeiten, verbindende oder ermutigende Worte für meine Mitmenschen zu finden. Das hat wohl mit meinem Dissidentencharakter zu tun. Überall dort, wo ich auch nur einen Anflug von Einstimmigkeit und Gemeinschaftsgeist wahrnehme, versuche ich, diese zu zerstören, oder suche das Weite. Das ist wohl eine verwerfliche Eigenschaft. Ich kenne einige Menschen mit diesem Makel,...

Das Vermächtnis des Freundes

Im März verstarb unser Kollege Erwin Riess. Einige Wochen zuvor hatte er an die STIMME-Chefredakteurin gemailt, dass er für die kommende Ausgabe krankheitsbedingt nicht schreiben werde, und sie um die Weiterleitung folgenden Wunsches an den Vorstand der Initiative Minderheiten gebeten: „Ich hoffe doch sehr, daß jemand über die Faschistenmachtübernehme in NÖ schreibt.“ Ich will hier versuchen, dieses Vermächtnis meines Freundes zu erfüllen. Zumindest einen Teil davon. „Faschismus“ ist...

Der Autoritarismus im Chat

Ich gehöre zu den Auserwählten, ich habe mit der künstlichen Intelligenz geplaudert. Sie wissen schon: ChatGPT („Chat Generative Pre-trained Transformer“), der sogenannte Bot des US-Unternehmens OpenAI, über den seit einigen Monaten in allen Medien berichtet wird. Die journalistische Zunft fragt sich darin ebenso wie gestandene Uni-Profs oder gutbezahlte Künstler*innen, ob die künstliche Intelligenz klüger sei als sie selbst, freilich mit (noch) negativem Befund. Ein Schelm, wer jetzt...

Minoritäre Allianzen damals – und heute

Im November 2022 veranstaltete die Initiative Minderheiten eine Tagung im Wiener Volkskundemuseum zum Thema „minoritäre Allianzen“. Unter diesem programmatischen Namen schlägt die Organisation seit dem „Minderheitenjahr 1994“ einen Orientierungsrahmen für politisches Handeln vor. Interessant war für mich auf der Tagung zu beobachten, wie anders heute, nach knapp 30 Jahren, eine junge Generation von Minderheiten-Aktivist*innen diesen Terminus aufnahm. Wir hatten ihn jedenfalls in einer besonderen Zeit und politischen...

Die Eule der Minerva

Es ist eines seiner bekanntesten Zitate, und doch herrscht bis heute keine Einigkeit über dessen Bedeutung. G. W. F. Hegel, der Philosoph des Weltgeistes, schrieb folgende Sätze, die für den Geist der Nachwelt vieldeutig bleiben: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der...

Die dritte Option

Die Illusion ist das zäheste Unkraut des Kollektivbewusstseins; die Geschichte lehrt, aber sie hat keine Schüler (Antonio Gramsci) „Der Krieg ist dieser Tage wieder zur ‚einzigen Alternative‘ geworden. Wir befinden uns wieder einmal in finsteren Zeiten, in denen Militärparaden von Freizeitstrategen wie eine Morgendämmerung im Frühling beschrieben werden, die Faszination des Stahls und der Schaltkreise die grauen Zellen beschlagnahmt, die Zahl toter Menschen mit den Kosten der...

W-Fragen im Untertitel

Kennen Sie den „Kellnerpunkt“? Das ist ein Wort aus Die Tante Jolesch. Der Autor umschreibt den Terminus, der im Café Herrenhof entstanden sei, wie folgt: „Er ergab sich immer dann, wenn ein pompös überdrehtes Gespräch aus den Höhen einer Selbstgefälligkeit zu einer entlarvend primitiven Schlußfolgerung abglitt, die sogar dem Kellner einleuchten mußte.“[1] Ist das nicht elitär? Na sicher, aber zumindest ehrlich. Diese Woche hörte ich auf Ö1...

Die pandemische Verwerfung

Im März 2020, zu Beginn der Covid-19-Pandemie, schrieb ein italienischer Philosoph im Rahmen einer Online-Debatte folgenden Satz: Je mehr die anderen Distanz zu mir halten, desto näher fühle ich mich ihnen.[1] Eine neue Form der Nächstenliebe. Solidarität in Zeiten der Pandemie. Der Satz sollte wohl die „soziale Distanz“, die als imperative Parole just in jenen Tagen in Mode kam, ethisch begründen und zugleich dazu aufrufen. Nun, nach...

Das dreißigste Jahr

Wenn er in sein dreißigstes Jahr geht und der Winter kommt, wenn eine Eisklammer November und Dezember zusammenhält und sein Herz frostet, schläft er ein über seinen Qualen. Ingeborg Bachmann: Das dreißigste Jahr[1] Mein Kollege wird in diesem Monat 30. Ich habe ihm versprochen, an seinem Geburtstag mit den spätadoleszenten Boomer-Witzen über sein junges Alter für immer aufzuhören. Inzwischen nerven diese („Was, du weißt wirklich, wer Michael...