Entgegen der sprichwörtlichen Annahme ist die Angst kein schlechter Ratgeber. Für Leute, die beängstigt werden, mag ja das Sprichwort noch gelten. Nicht aber für die, die Angst machen. Für sie ist Angst lukrativ und verkauft sich als die beste Ratgeberin. Mit Angst betreiben die meisten Parteien Wahlkampf und die meisten Regierungen Politik.
Interessant nur, dass es dabei fast immer um die Angst anderer geht. Ich als Politiker sage dir, vor wem du Angst haben sollst. Der Integrationsministerin erklärt, warum die Bevölkerung gerade vor der Migration Angst habe. Man müsse die Angst der Leute ernst nehmen, mahnen die Angstlosen ein. „Bald wird jeder jemanden kennen …“, prophezeit der Kanzler. Die Angst der anderen – das ist der Stoff, aus dem die autoritären Träume gemacht sind.
Niemand teilt gerne die eigenen Ängste in der Öffentlichkeit mit. Denn sie deuten auf Schwäche hin, und Schwäche wird höchstens einen Tag lang als Stärke ausgelegt, wenn etwa ein Minister aus gesundheitlichen Gründen zurücktritt, aus Angst, er könnte dem Job nicht mehr gewachsen sein, und dies vor laufender Kamera bekanntgibt. „Danke, Rudi!“ rufen dann die Harmonischgesinnten 24 Stunden lang aus einer Kehle (grün ist die Hoffnung für manche noch immer), in der 25. Stunde aber vergessen sie schon den Rudi und denken über die eigene Gesundheit nach: Diese sei – so erneut der Kanzler – durch die hohe Inzidenzzahl akut gefährdet, obwohl das Licht am Ende des Tunnels … tja, in Gestalt des russischen Impfstoffs mit kosmonautischer Sicherheit auf uns zusteuere. Man müsse jedoch, so wiederum die Simulationskoryphäe im Fernsehen, vor dem nächsten Herbst Angst haben, denn …
Ich habe schon sehr lange Angst. Und keineswegs Scheu davor, diese öffentlich mit Ihnen, geneigte Leser*innen, zu teilen. Meine akute Angst bezieht sich nicht unmittelbar auf die Pandemie, sondern auf eine politische Entwicklung in der Pandemie.
Ich meine die Gefahr, die der Demokratie inhärent ist, ihr quasi als deren Reset-Taste innewohnt: der Ausnahmezustand. Dieser wurde bereits in den 1920er Jahren von einem der prominentesten Feinde der liberalen Demokratie beschrieben, vom Juristen und Politiktheoretiker Carl Schmitt, einem glühenden NS-Sympathisanten. Sein Ausspruch erlangte eine solch traurige Berühmtheit, dass sie mittlerweile von linken Theoretiker*innen als Lehrsatz zitiert wird: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“[1]
Ebenso berühmt wurde die kritische Rezeption dieses Satzes durch den italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der schon vor langer Zeit die These vertreten hat, heutige Demokratien würden aufgrund ihrer Regierungskrisen dazu neigen, den Ausnahmezustand Stück für Stück einzuführen und zum Normalzustand auszubauen. Es gibt Beispiele für die „fristlose Verlängerung“ des Ausnahmezustandes, das bekannteste von ihnen ist wohl das auf dem USA PATRIOT Act (später als USA Freedom Act verlängert) basierende Maßnahmenpaket mit dem Titel „Krieg gegen den Terrorismus“, das fundamentale Bürgerrechte seit 2001 zum Teil drastisch einschränkt.
Bereits am Anfang der Covid-Pandemie verfasste Agamben eine Reihe von Texten, in denen er behauptet, seine These sei nun Wirklichkeit geworden.[2] Tatsächlich haben innerhalb des Pandemiejahres die meisten Regierungen weltweit Maßnahmen verabschiedet, die Grund- und Freiheitsrechte beschneiden, während sie sich selbst mit größeren Entscheidungs- und Eingriffsrechten ausgestattet haben. Nicht selten machen die Regierungen in ihrer Politik der Pandemie von autoritären Diskursen und Praktiken Gebrauch.
Meine Angst beruht nicht in erster Linie darauf, Regierungspolitiker*innen würden diese Gelegenheit nutzen, um ihre schon immer vorhandenen illiberalen Tendenzen und Wünsche zu verwirklichen. Dies gilt zwar ohne Zweifel für nicht wenige Länder (auch Europas), wie wir es etwa aus Ungarn gut kennen – und die aktuelle Regierungskonstellation mit Sebastian Kurz als Bundeskanzler hat bis heute nicht unbedingt ein Bild geliefert, das längerfristige Entwicklungen hin zum Autoritarismus hierzulande würde vollkommen ausschließen lassen.
Meine Angst rührt dennoch eher von der „Vergesslichkeit“ des Demos – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechte funktionieren nicht aufgrund von Instinkten oder Reflexen der Bevölkerung, sondern umgekehrt muss das „Wahlvolk“ stets von Neuem lernen und sich daran gewöhnen, Rechte zu haben und mitentscheiden zu können. Sehr dünn bleibt die Grenze zum gesellschaftlichen Zustand, der diese Fähigkeiten vergessen macht (die Reset-Taste) – und Ausnahmezustand ist der andere Name dafür. Autoritätshörigkeit und Gehorsamkeitsbereitschaft, ohnehin schon stark vorhandene „Tugenden“, potenzieren sich dann, wenn Autonomie und Emanzipation im Ausnahmezustand wieder verlernt werden.
Ich kann nicht umhin, am Ende Giorgio Agamben zu zitieren, obwohl ihn derzeit fast alle zu meiden scheinen wie der Teufel das Weihwasser:
„Eine Gesellschaft, die im ständigen Ausnahmezustand lebt, kann keine freie Gesellschaft sein. Wir leben in der Tat in einer Gesellschaft, die die Freiheit zugunsten der sogenannten Sicherheitsgründe geopfert und sich selber dazu verurteilt hat, in einem ständigen Angst- und Unsicherheitszustand zu leben.“[3]
Ich bin nicht der Meinung, diese warnenden Worte kämen aus dem Munde eines „Schwurblers“.
[1] Carl Schmitt: Politische Theologie: Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. E-Book, 2015.
[2] Eine Auswahl dieser Texte liegt nun als Buch in deutscher Übersetzung vor: Giorgio Agamben: An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Wien 2021.
[3] Ebd., S. 28.
Der Text wurde der aktuellen Ausgabe der STIMME entnommen.
Hakan Gürses ist Wissenschaftlicher Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung (ÖGPB). Von 1993 bis 2008 war er Chefredakteur der Zeitschrift Stimme von und für Minderheiten, von 1997 bis 2011 Lektor und Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien. Seine Kolumne “Stimmlage” erscheint regelmäßig in der STIMME.