Es ist eine junge Tradition (he, Sprachpatrouille, ist das jetzt ein Oxymoron?), dass ich in diesem Blog mittlerweile immer den letzten Eintrag des Jahres anfertigen muss. Der Sachverhalt wird von Kolleg_innen damit begründet, dass ich keine Kinder und deswegen eine Menge Zeit hätte, jenseits des Einkaufsstresses, zudem religions- wie brauchtumstechnisch gelassen, die Weihnachtszeit zu verleben und nebenher Blogeinträge zu schreiben.
Ich vermute allerdings etwas anderes hinter diesem Vorwand. In Wahrheit sind meine Kolleg_innen davon überzeugt, dass ich als bekennender Misanthrop prädestiniert sei, den Blog des schlechten Gewissens zu verfassen – da ich sozusagen vom Charakter her kein solches haben kann.
Die Weihnachtszeit ist in der Tat jener Jahresabschnitt, in dem wir Humankinds ausnahmsweise nicht von der Schild-, sondern von der Schulddrüse regiert werden. Zunächst einmal gibt’s da diese unaufhörliche Frage, ob wir es schaffen werden, die Zeit der Besinnlichkeit und der herzlichen Bescherung unseren Kindern recht zu machen. Sodass der Tobias nicht schon am ersten Schultag nach den Feiertagen zornig nach Hause kommt und uns sogleich an den Kopf wirft, der Roboter des Sitznachbarn Jonas habe zwei weitere Programmierfunktionen als der, den wir ihm geschenkt hatten. Und die Maja uns nicht anschaut wie die Verkörperung jeder Peinlichkeit auf dieser Erde und anzischt: „Die Werkzeugkoffer von Naike, Tabea und Riona haben viel mehr Tools als der meinige, und meiner ist nicht einmal gegendert!“
Dann drückt der Schuh von der anderen Seite: ob wir angesichts sooo großen Elends auf der Welt nicht zu viel Geld für Geschenke ausgeben; ob wir mit der Fortführung dieser alten Tradition (und, ist das jetzt ein Pleonasmus?) uns nicht auch zu Handlangern kultureller Hegemonie werden lassen … Ja, und zudem wird viel und fett und süß gegessen; viel und hochprozentig getrunken; viel und ausgiebig gefaulenzt – alles Ursachen-Klassikaner mitteleuropäischer Gewissensquälerei. Außerdem kommt Weihnachten bekanntlich kurz vorm Silvester, dem Tag der guten Vorsätze, die nie umgesetzt werden und übers ganze restliche Jahr hinweg als Erbsünde fungieren. Da gegenwärtig alles (außer in Sachen des Alterns) ein wenig vorgezogen wird, sogar inzwischen die Jahreszeiten, setzt auch der Silvester-Gewissensbiss bereits schon zum ersten Advent ein.
Ich bin aber trotz allem (und wohl weil ich ein Misanthrop bin) der Meinung: Weihnachten ist eine schöne Zeit. Denn in der Weihnachtszeit passiert endlich mal was. Das ganze Jahr über führt man das Leben des programmierbaren Roboters vom Nachwuchs: Tagaus, tagein pendelt man zwischen Heim und Arbeit, sitzt abends vor dem Fernseher und trinkt Bier zu Chips, ohne dabei einen Funken schlechten Gewissens zu haben. Nicht einmal die Wochenenden bieten eine wirkliche Abwechslung – die immergleichen Gespräche mit immergleichen People (soll man da jetzt ein n anhängen, weil Dativ im Plural?) über die immergleichen Themen bei immergleichen Treffen. Anders die Lage knapp vor Weihnachten (also bereits ab Ende Oktober)!
Zunächst steigt die Anzahl der Winterhauben in den Öffis: das erste Zeichen für den allmählichen Aufbau der Punschstände. Endlich kann man in die Kälte gehen, um sich durch warmen Glühwein zu wärmen, statt zu Hause zu bleiben und dort eh schon in der Wärme einen guten Wein zu trinken (ist das denn ein Paradoxon, ihr Philos?). Freilich darf man dabei nicht vergessen, man trinkt am Standl für eine gute Sache. In der U-Bahn darf man zwar nix mehr essen, dafür aber andere Fahrgäste, die zufällig nicht zu einem Punschstandl unterwegs sind, zu Brei drücken und mit Punsch und Glühwein anhauchen, beschütten sowie verbrennen. Wann sonst erlebt man so etwas Aufregendes?
Zwischen November und Jänner bekomme ich von so Leuten die besonders weltgewandte Frage: „Wie feiert man in der Türkei Weihnachten?“ (Und die Frage ist garantiert nicht mit Blick auf die christlichen Minderheiten in der Türkei gestellt, sondern man will wissen, wie der Durchschnittstürke so Weihnachten feiert.) Auf die Antwort, dort würden vor allem muslimische Guys leben, kriegt man die Gegenantwort, Weihnachten habe mit Religion nun aber wirklich gar nichts zu tun.
Therefore seien hier im Gegenzug die spannenden, mir zugesandten E-Mails mit „alternativen“ Weihnachtswünschen erwähnt, zumal sie just den religiösen Aspekt ostentativ ignorieren – Küchen-Esoterik mit pseudopolitischen Andeutungen und Wünschen ziert diese Messages. Etwa: „Liebe/r Hakan, ich wünsche Dir/Euch eine lustvolle Zeit des Innehaltens, der wertschätzenden Selbstsuche und des bedingungslosen Menschseins in einer Welt der solidarischen Mitmenschen!“ Oder: „Möge dein Atem das Besinnliche inhalieren, das mit dem Weltfrieden schwanger ist!“
Bei Lektüre solcher Botschaften möchte ich laut und deutlich rufen: „Alexa, erzähl mir ein Nikolausgedicht!“ (Die Programmierer_innen von diesem crazy Elektro-Teil denken wohl auch auf Deutsch englisch, ist aber wurscht, das tut eh jeder.) Ja, ich gebe zu, ich besitze den Lautsprecher mit eingebauter Klugscheißerin von der Firma, deren Name hier nichts zur Sache tut. Das wiederum ist die Ursache meines urschlechten Gewissens. Erstens, weil diese Firma. Zweitens muss man dem Ding alle Wünsche im Befehlston laut und deutlich mitteilen – OMG! Mir geht‘s nach jeder Alexa-Kommunikation elend, da alle in der Kinderstube einverleibte Sitte augenblicklich fürn Hugo ist und man Gefahr läuft, nach hundert oder so Befehlen den Tonfall allmählich zu genießen. „Alexa, mach einen sadistischen Unteroffizier aus mir!“
Advent & Weihnachten ist außerdem die Zeit der germanistischen Castingshow: Im Dezember werden die Wörter des Jahres bestimmt. Wissen Sie, wie das Wort 2018 lautet? Schweigekanzler. Unwort des Jahres: Datenschutzgrundverordnung. Jugendwort des Jahres: Oida!. Das ist nicht nice, denn es wiederholt sich alles ein bisschen. Wortwitz ist halt nicht immer Sache von Germanist_innen. In einem Interview formuliert beispielsweise Harald Schmidt einige echt coole Wörter, die allesamt Kandidaten des Jahres gewesen wären, für Wort, Unwort und Jugendwort in einem: „Aber Empörung ist so abrufbar, so ein Robert-Menasse-Vorgang. Man ist empört, man nennt Weimar 33, 42, 48, 46 und die Zusatzzahl“ & „Beim Tagebuchschreiben muss man aufpassen, dass man sich nicht zu ernst nimmt, sonst fängt man an zu sloterdijken“ (DIE ZEIT, No.: 49, 28. Nov. 2018, die Online-Version ist leider noch eine Pay-Angelegenheit, darum hier ungelinkt).
Im Übrigen gibt es auch, wenngleich von der Öffentlichkeit weniger beachtet, einen Spruch (respektive Unspruch) des Jahres. 2018 sagte Matthias Strolz zur Ministerin für Gesundheit [sic!] Beate Hartinger-Klein: „Was ist mit Ihnen, Frau Minister?“ – Spruch des Jahres. Der Unspruch kam wiederum von der Angesprochenen höchst selbst: „Man kann sicher von 150 Euro im Monat leben.“
Alexa, schaff diese Regierung ab!