Es gibt wieder einmal schlechte Nachrichten. Gottlob nichts Trauriges, Verstörendes und Leidvolles aus dem Privatleben, obwohl sich meine akuten Schulter- und Magenschmerzen, der halbierte Schlaf oder die melancholische Stimmung durchaus sehr privat anfühlen.
Die wohl biografisch fundierte Wahrnehmung manch öffentlichen Informationsflusses bereitet mir und vielen mir bekannten Personen derzeit Unwohlsein. Der Angriff der türkischen Armee in Begleitung der lokalen Platzhalter auf Rojava; die dadurch angespannte geopolitische Lage in der gesamten Region; der Anschlag auf die Synagoge in Halle; die nicht gerade minderheitenfreundlichen Töne vor der Nationalratswahl in Österreich … Schön ist anders.
Ich kann mich leider nicht rational und aus erforderlicher Distanz über solche schlechten Nachrichten äußern, wenn ich einmal in deren Strudel hineingeraten bin. Darum belasse ich es bei der bloßen Erwähnung der misslichen Schlagzeilen und mache mich sogleich an die Vermittlung einer heiteren Erfahrung.
Menschenansammlungen haben mich stets beunruhigt (schon wieder Autobiografie!). In den beiden zentralen Orten meines bisherigen Lebens, in der Türkei und in Österreich, gibt es allerdings zwei merkwürdige Formen der Ansammlung von Individuen, die mich zudem seit jeher äußerst irritieren.
In der Türkei sind es Menschen, die vor einem Loch stehen und hinein starren. Denen begegne ich seit meiner Kindheit regelmäßig, egal in welcher Stadt der Türkei ich mich befinde. Es handelt sich um Vertiefungen, welche plötzlich auftauchende Straßenbauarbeiter öffentlicher Hand in die Straße bohren und die dann ein gefühltes Jahr lang offenbleiben. Niemand weiß, wozu sie dienen und warum man sie nicht bald wieder zuschüttet. Das ist aber offenbar nicht der Grund für die Menschenmassen, in die Löcher zu starren. Denn sie scheinen bei ihrem Zuschauen nicht daran interessiert, etwas über Ursache oder Dauer der Aushebung zu erfahren. Eigentlich schauen sie den arbeitenden Männern zu, wobei man sagen muss, dass diese zuschauenden Menschen selbst mehrheitlich männlichen Geschlechts sind: Männer, die auf Männer starren. Manchmal aber gibt es keine Arbeiter in oder an der Grube. Da schauen die Versammelten nur das Loch an, einfach so.
Ich habe es nie verstanden, warum man so etwas tut. Massenlangeweile aufgrund der dauerhaft hohen Arbeitslosigkeit wäre ein Erklärungsansatz. Interesse an Arbeitsschritten der Straßenaushebung für den Fall einer eventuellen Anstellung als städtischer Lochbohrer wäre auch denkbar. Aber warum dann das reine Hineinschauen in ein unbemanntes Loch? Hoffen sie, den Erdkern zu Gesicht zu bekommen? Glauben sie, dass sie in der Grube einen eingegrabenen Schatz entdecken? Einen Blick in die Hölle bekommen oder auf die Köpfe des Zerberus? Fragen über Fragen …
Das österreichische Gegenstück der merkwürdigen Menschenansammlungen lässt sich vor geschlossenen Wiener Geschäftsläden ausfindig machen. Was die Türken vor einem Loch, das sind die Österreicher vor einem Laden, wobei die hiesige Masse geschlechtsparitätisch zusammengesetzt ist (Fortschritt ist Fortschritt).
Etwa eine Viertelstunde vor der Öffnungszeit steht fast täglich eine kleine Gruppe vor manchen Geschäften. Das sind jedoch meistens keine Läden, wo die Bedienung wichtiger ist als die Kundschaft, so wie es bei den Shops von Mobilfunkanbietern der Fall ist. Da muss man eine Nummer ziehen und anschließend circa zwei Stunden warten, um beim Schaltermenschen Audienz zu bekommen und eine Handy-Hülle mit anhängendem Plüschtier zu erwerben.
Nein, die besagten Leute warten in der Regel vor Läden mit Selbstbedienung: Schuhgeschäfte, Bekleidungshäuser, Sportläden, sogar Buchhandlungen. Die Ware ist nicht unbedingt limitiert in diesen Shops, das Sortiment wird nicht schon ausverkauft sein, wenn man das Lokal nicht gleich um neun, sondern erst um elf Uhr betritt. Trotzdem stehen um Viertel vor neun die Wartebrigaden vor der Ladentür, bei Kälte, Schnee und Regen, bei Hitze oder Nebel, ohne mit der Wimper zu zucken; so, als wäre es die selbstverständlichste menschliche Handlung, vor Läden zu stehen und auf deren Öffnung zu warten.
Warum die Leute das tun, ist mir auch in diesem Fall unklar. Bedenkt man die relativ niedrige Arbeitslosigkeit in Österreich, ist es sogar viel seltsamer als in der Türkei.
An diese beiden nationalen Ausformungen öffentlich herumstehender Menschenansammlungen muss ich stets denken, wenn ich jenen Satz höre, den man insbesondere in pädagogischen oder politisch-aufklärerischen (was mehr oder weniger dasselbe ist) Zusammenhängen zu hören bekommt: „Wir müssen die Menschen dort abholen, wo sie stehen!“
Wem aber wird es je gelingen, die Menschen dort abzuholen, wenn sie vor den durch öffentliche Hand ausgehobenen Löchern respektive vor den geschlossenen Selbstbedienungsläden stehen? Und warum sollten sie diesem edukativen Shuttleservice zustimmen und mit uns mitkommen? Ja, und wo sollten wir sie hinbringen, wenn sie wollten, wo sie sich genauso wohlfühlen würden wie vor Geschäften und Gruben?
Jetzt bin ich schon wieder bei den schlechten Nachrichten gelandet, fürchte ich.
Foto: Andreas Bohnenstengel [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)] File-URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1f/Strassenmarkierung_17.jpg