Großvater ging in Ritzing zur Schule. Das war damals in den 1930er Jahren, lange vor seinem Tod. Ich bin ihm nie begegnet, doch kenne ihn aus meines Vaters Erzählungen. Wenn wir heute durch das kleine, burgenländische Dorf im Bezirk Oberpullendorf spazieren, erinnert sich mein Vater an Großvaters Geschichten. Damals musste Ritzing lebhafter gewesen sein. Dort, wo es heute still ist, wo die Straßen leer und die Häuser nur am Wochenende voll sind, lebten damals fast doppelt so viele Menschen – aus fünf verschiedenen Volksgruppen: Kroaten, Deutsche, Ungarn, Juden und Roma. Großvater erzählte von den Roma-Kindern, die mit ihm in die Klasse gingen. Bewunderung, Neugier, Distanz, Interesse, Vorsicht, was genau verband Großvater mit den Roma-Familien?
Bis in die 1920er Jahre wohnten die drei Roma-Familien in Hütten in der Lange Zeile, gleich unterhalb des damaligen Gasthauses Emil Arthofer. Nach einer Umwidmung ihrer Grundstücke mussten sie aber an den Rand des Dorfes umsiedeln, oberhalb des sandigen Grabens, wo sie sich Lehmhütten bauten. Sie arbeiteten als Handwerker, als Tagelöhner, als Gehilfen und spielten fröhliche Musik. Sie waren also ansässig, arbeiteten wie alle anderen und waren ein fester Bestandteil der Ritzinger Dorfgemeinde. Aber irgendwie anders waren sie ja dann doch, meinte Großvater. War es der Reiz und die Imagination des freien Lebens, des ausgelassenen Tanzens und leidenschaftlichen Musizierens, des bedingungslosen Familienzusammenhalts oder doch das Unbehagen vor dem projizierten Fremden? Sollte das Pejorativ „du kommst daher wie ein Zigeuner“ ein Antonym zur Urbanisierung und Kommerzialisierung sein? „Sei fleißig, arbeite brav und lungere nicht so herum!“. Doch war es doch nicht auch reizvoll, die imaginierte Freiheit zu genießen und „herumzuzigeunern“, wie es so manch einer abwertend bezeichnen würde? Denn was sollte schon Schlimmes passieren? Was sollte denn sonst geschehen?
Doch dann passierte es, das Verschlingen (Porajmos). Wo waren sie hin, die Kinder, die einst mit Großvater in die Schule gingen? Innerhalb einer Nacht verschwanden 14 der insgesamt 18 in Ritzing lebenden Roma. Sie wurden nach Lackenbach verschleppt, ins sogenannte „Zigeuner-Anhalte Lager“, in dem Tausende Volksgruppenangehörige eingesperrt und gequält wurden. Später wurden sie dann nach Łódź und Auschwitz deportiert – der Großteil wurde ermordet. „Weil sie faul, arbeitsscheu und kriminell sind“ erklärten die Dorfbewohner ihren Kindern. Ihr Schicksal diente so manchem verängstigen Bürger als pädagogisches Beispiel, ihre Kinder mit Strenge und drohendem Appell zu erziehen. Mein Urgroßvater und meine Urgroßmutter waren keine Nazis, sie wollten mit dem Krieg nichts zu tun haben. Dafür waren sie zu katholisch. Doch auch sie perpetuierten antisemitische und antiziganistische Sprüche – wie viele andere. Leider.
Jedenfalls befand sich auf Großvaters Schulweg das Lackenbacher Roma-Lager. Großvater beobachtete die Geschehnisse, die sich dort abspielten: Seine ehemaligen Ritzinger Mitbürger wurden gequält, schikaniert und beschimpft. Ihre Lehmhütten am Rande des Dorfes wurden in Brand gesteckt. Sie brannten lichterloh. Es war grausam. Nach Kriegsende kam keiner zurück. Alle wussten Bescheid. Alle schwiegen.
Mein Vater Christian Gmeiner möchte das Schweigen nun brechen. Nach über 70 Jahren möchte er in Großvaters Heimatdorf ein Zeichen der Erinnerung setzen. Er möchte die Verbrechen vergegenwärtigen. Und er möchte ein Zeichen für die Zukunft setzen. Für eine Friedliche.
Vielleicht hilft es Zeitzeug*innen und deren Angehörigen, die damaligen traumatischen Geschehnisse neu aufzuarbeiten, unterdrückte Gefühle zuzulassen und das Schweigen zu brechen. Nicht selten kommt es vor, dass künstlerische Erinnerungsprojekte auch Bürgern und Bürgerinnen der Mehrheitsbevölkerung helfen: Sie beteiligen sich, bringen sich ein, erzählen, weinen oder beobachten einfach nur. Jedenfalls tut sich immer etwas. Doch auch negative Reaktionen sind besonders wertvoll, weil man gerade bei Aversion und Widerstand viel verändern kann. Klar, man könnte sich von verbalen Konfrontationen à la „das brauchen wir nicht, wir haben damit nichts zu tun gehabt“ oder „das zerstört das Ortsbild, das stellen Sie bitte woanders hin“ einschüchtern lassen. Doch gerade diese sind ein Zeichen dafür, dass es Reflexion und Erinnerung dringlicher denn je braucht.
Beim Konzipieren des Denkmals arbeitete mein Vater mit den Historikern Herbert Brettl, Gerhard Baumgartner und Ernst Mihalkovits zusammen. Bei den Recherchen fanden sie heraus, dass auch drei Menschen mit Behinderung aus Ritzing deportiert und ermordet wurden. Diese drei Bewohner wurden nach Hartheim verschleppt, wo geschätzte 30.000 Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung gequält und ermordet wurden. Das Schloss Hartheim, das sich etwa 15 km westlich von der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz befindet, wurde von 1940 bis 1944 zur grausamen Tötungsanstalt.
Um nun endlich den 18 Roma sowie den drei Menschen mit Behinderung ein Erinnerungs-Denkmal zu setzen, wird in Ritzing eine künstlerische Skulptur errichtet: ohne Trivialisierung, ohne übertriebene Ästhetisierung, doch mit repräsentativem Charakter, Individualität und künstlerischer Ambiguität. Um eine Betonsäule reihen sich 21 Betonscheiben, die jeweils mit paarweisen Fußabdrücken der heutigen Ritzinger Bewohner*innen und der burgenländischen Roma Community versehen werden. Sie symbolisieren die 21 in der NS-Zeit verschleppten und ermordeten Menschen. Eine Gedenktafel an der Säule erklärt den historischen Kontext. Die eingeprägten Fußabdrücke stammen von Zeug*innen der Gegenwart. Zeug*innen, die zur Geschichte des Ortes und zugleich für einen abwesenden Menschen stehen. Und jede*r – ob Alt oder Jung – kann selbst zur Zeugin werden, indem er/sie sich in die Fußabdrücke stellt und Verantwortung übernimmt. Der wandernde Schatten der Betonstele wird, so die Sonne scheint, die einzelnen Scheiben der Reihe nach beschatten.
Wir wollen damit Dialoge fördern, wollen aufrütteln, anstoßen, ausgleichen, wir wollen intervenieren. Wir wollen sensibilisieren, einander verstehen, menschlich sein und darauf achten, dass Menschen nicht mehr ausgeklammert, weggesperrt, vertrieben und ermordet werden. Denn wie kommen wir dazu, mit unseren Zeigefingern auf unsere Groß- und Urgroßelterngeneration zu zeigen, aber selbst wegzuschauen? Am 19. Mai 2019 wird das Denkmal in Ritzing eröffnet: Die künstlerische Intervention wird mit Reden, Romamusik, „feierlichem Betonmischen“ und dem Einprägen der Fußabdrücke stattfinden.
Erinnerungskultur soll zugänglich und erlebbar werden. Erinnern bedeutet nicht nur Trauer Misanthropie und Pessimismus, sondern kann auch schön, bewegend, optimistisch und interessant sein.