Der Autoritarismus im Chat

Ich gehöre zu den Auserwählten, ich habe mit der künstlichen Intelligenz geplaudert. Sie wissen schon: ChatGPT („Chat Generative Pre-trained Transformer“), der sogenannte Bot des US-Unternehmens OpenAI, über den seit einigen Monaten in allen Medien berichtet wird. Die journalistische Zunft fragt sich darin ebenso wie gestandene Uni-Profs oder gutbezahlte Künstler*innen, ob die künstliche Intelligenz klüger sei als sie selbst, freilich mit (noch) negativem Befund. Ein Schelm, wer jetzt das anfängliche Urteil über die Schachcomputer in Erinnerung ruft. 

ChatGPT ist eine lernende Tratschmaschine. Sie stellen eine Frage an ihn und bekommen darauf eine relativ lange Antwort. An sich wie der Plausch mit einem Experten für alles, der an keinem Stammtisch fehlen darf, nur ohne den begleitenden Alkoholkonsum.

Eine meiner Fragen an ChatGPT lautete, warum es heute mehr autoritäre Regierungen gebe. Typische Besserwisserfrage, aber im Bereich der Naturwissenschaften bin ich trotz mit Interesse geschauter Folgen von Science Busters noch immer ein Koffer. Darum dachte ich mir, lieber eine politische Frage stellen, deren Antwort ich zumindest überprüfen kann. Ich muss sagen, diese war durchaus intelligent, wenn auch ein wenig ideologisch gefärbt. Kompliziert sei die Sache, viele Gründe spielten dabei eine Rolle, und vier wesentliche seien zu nennen, so der Online-Roboter: Wirtschaftliche Instabilität, Angst vor Terrorismus und anderen Bedrohungen, politische Polarisierung und Social Media würden die Leute dazu verleiten, autoritäre Führer zu wählen, obwohl diese bekanntlich individuelle Freiheiten beschneiden. Zugegeben, jede*r US-Politiker*in mit demokratischem Hintergrund hätte wohl die gleiche Antwort formuliert. Die mit republikanischem eigentlich auch.

Ganz so aus der Luft gegriffen oder nur meiner Science-Unfähigkeit geschuldet war indes mein Anliegen nicht. Wachsender Autoritarismus hin zur Autokratie ist tatsächlich eines der größten Probleme unseres noch jungen Jahrhunderts. Ich weiß, würden wir heute führende Köpfe ebenso wie eine beliebige Straßenbefragungsperson befragen, was sie für die größten Probleme unserer Zeit hielten, käme höchstwahrscheinlich die Multikrisen-Antwort wie aus der Pistole geschossen: Klima, Pandemie, Krieg.

Mein Autoritarismus-Problem liegt im Sorgenranking eher unten, weit hinter „Inflation“ oder „Mobbing im Internet“. Zu Unrecht, wie ich sagen muss. Denn heutige autoritäre Regime, nennen wir sie vorübergehend Neo-Autokratien, hängen mit der Dreifaltigkeit Klima-Pandemie-Krieg eng zusammen, nicht nur wegen ihrer Rolle bei der Entstehung dieser modernen Plagen, sondern auch wegen ihres Umgangs damit.

Was heute in Russland, Ungarn oder der Türkei vor sich geht, überholt die Schulmeinung politischer Bildung, ein Regime sei entweder demokratisch oder diktatorisch. Wir haben es mit Herrschaftsformen zu tun, die diesen Gegensatz fast schon dialektisch überwinden, indem sie ihn in sich aufheben. Neo-Autokratien berufen sich zu ihrer Legitimation auf formale Mehrheitsentscheidungen etwa durch Wahlen, die nicht unbedingt gefälscht werden müssen, und schränken allgemeine Freiheiten im Namen der souveränen Mehrheit entschieden ein, insbesondere die Meinungs- und Informationsfreiheit. Notstandsgesetze, sogar zeitweiliger Ausnahmezustand, mangelhafte Rechtsstaatlichkeit, Einengung zivilgesellschaftlicher Initiativen und ein autoritärer Diskurs vonseiten der Staatsorgane sind einige Merkmale der Neo-Autokratien, die aber – das ist das Neue an ihnen – nicht allein der Willkür und den persönlichen Interessen einer Person oder einer Gruppe unterworfen, sondern in ein Netz von Institutionen sowie innen- und außenpolitischen Praktiken eingebettet sind.

Viele Namen für eine solche, zugleich plebiszitär, populistisch und autoritär verfasste Herrschaftsform sind in Umlauf; vom „autoritären Etatismus“ hatte bereits in den 1970er Jahren der griechisch-französische Politiktheoretiker Nicos Poulantzas gesprochen, unter „Soft-Bonapartismus“ fasste der italienische Philosoph Domenico Losurdo in den 1990er Jahren entsprechende Entwicklungen zusammen, „illiberale Demokratie“ nennt der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sein eigenes Gesellschaftskonzept.

Wie immer die neue Herrschaftsform am Ende heißen mag – eine synchrone Tendenz, eine Art Megatrend in Sachen Herrschaftsgestaltung ist seit mindestens zwei Jahrzehnten weltweit zu beobachten. Wo die Dynamiken dieser Entwicklung liegen, warum sie eine solche Gleichzeitigkeit in vielen Ländern aufweist, wohin sie schließlich führen kann (ein „sicheres“ Beispiel liefert uns Russland: in einen Angriffskrieg) – das ist alles noch weiter zu erforschen und zu analysieren. Vor allem die Frage, was den Grundpfeiler der Demokratie, den Demos, dazu bringt, autokratische Regierungen (wieder) zu wählen oder zu unterstützen, ist von zentraler Bedeutung, um die Autokratie nachhaltig verhindern zu können.

Apropos verhindern: In aller Aufregung ob des Auserwähltseins hatte ich vergessen, mich bei dem Transformer nach der Zauberformel zu erkundigen. Ich werde ihn beim nächsten Chat unbedingt fragen müssen: Wie werden wir die Autokraten wieder los? Ich bin sicher, eine intelligente Antwort wartet jetzt schon auf mich. Einen jedenfalls nicht blöden Vorschlag hatte bereits Wolf Biermann in einem Lied mit dem Titel Ballade zur Beachtung der Begleitumstände beim Tode von Despoten … gemacht:

Wir wolln in diesem Falle
die Tradition nicht schmähn:
Es solln auch mit den Herren
die Knecht’ zugrunde gehn!

Ceterum censeo, unser Bundeskanzler Nehammer schlägt (Wortspiel nicht beabsichtigt!) in seinen öffentlichen Auftritten zunehmend einen autoritären Ton an – ist es Ihnen auch aufgefallen? Bei der Frage hilft allerdings auch keine künstliche Intelligenz, denn der ChatGPT kann bei seinen Antworten nur das Trainingsmaterial bis 2021 zu Rate ziehen.


Die Kolumne “Stimmlage” erschien in der STIMME Nr. 126/2023.

Hakan Gürses ist in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Von 1993 bis 2008 war er Chefredakteur der Zeitschrift Stimme von und für Minderheiten, von 1997 bis 2011 Lektor und Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien. Seine Kolumne “Stimmlage” erscheint regelmäßig in der STIMME.

 

 

 

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