Verbunden mit der Initiative Minderheiten: Leah Carola Czollek und Gudrun Perko

In unserer letzten Ausgabe von „Verbunden mit der Initiative Minderheiten“ vor Jahresende haben Leah Carola Czollek und Gudrun Perko, langjährige STIMME-Autorinnen, Mitstreiterinnen und Freundinnen, unsere Fragen aufgenommen, um miteinander über ihre jeweiligen politischen Biografien zu sprechen:

Leah Carola Czollek: Wir kommen aus unterschiedlichen Ländern – du aus Österreich und ich aus der DDR. Wir kommen auch aus politisch unterschiedlich verfassten Gesellschaften, du aus einer Demokratie und ich aus einer Diktatur. Was hat dich, Gudrun, rund um das Jahr 1991 politisch bewegt?

Gudrun Perko in den 1990er Jahren auf Lesbos. Foto:privat

Gudrun Perko: 1991 lebte ich schon seit ca. zehn Jahren in Wien und studierte an der Universität Wien Philosophie. Ich hatte zwar kein Geld, fühlte mich aber frei und hatte die Vorstellung, die Welt verändern zu können. Das Freiheitsgefühl bezog sich nicht zuletzt darauf, dass ich nach dem Abitur aus Kärnten – sozusagen aus dem „braunen Sud“ – weggekommen und nach Wien übersiedelt war. In diesen zehn Jahren Wiener Leben lernte ich eine Großstadt und – was für mich viel wichtiger war – andere Lesben kennen, das Lesbencafé in der Langegasse oder das FrauenLesbenZentrum in der Währingerstrasse mit der damaligen  „Sonderbar“. In dieser Zeit beflügelten mich sogar die vielen internen Streitereien, die manchmal sehr hart waren, aber vor allem meine feministischen Aktivitäten gemeinsam mit anderen Frauen. Beispielsweise organisierten wir rund um diese Zeit die 6. österreichische Frauensommeruniversität zum Thema „Autonomie in Bewegung“ oder die Veranstaltung „Frauen gegen rechts“. Gleichzeitig war mein lesbisch-feministisches Umfeld auch sehr abschottend. Ausgrenzungen waren gängige Praxis. Das war nichts für mich. 1991 schrieb ich am Institut für Philosophie an meiner Diplomarbeit. Es ging es um Fragen der Gestaltung von gesellschaftlichen Bedeutungen – wie subjektive Vorstellungen, z. B. über Frauen, zu kollektiven und wie diese als gesellschaftliche Bedeutungen verankert werden und welche Rolle dabei die Geschichte spielte. Vor allem ging es um Dekonstruktionsmöglichkeiten –  heute würde ich Pluralisierungsmöglichkeiten dazu sagen. Ich war rund um 1990 also mitten in der Frauen-/Lesbenbewegung Wiens, mitten in der Philosophie und mit Gedanken immer noch mitten in der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kärntner Slowen_innen und der so genannten Windischen als irgendwie Teil meiner Familiengeschichte. Und immer noch mitten im Kampf gegen Rechtsextremismus, gegen die Nazis (die „braune Sud“) und gegen Antisemitismus. An vielen Orten war das eine oder das andere nicht gefragt. Zu dieser Zeit bewegte mich ein Satz von Gerda Ambros, einer Philosophin aus Klagenfurt, die mir geraten hatte, dass ich als Philosophin immer einen Fuß draußen behalten sollte. Diesen Rat habe ich mir zu Herzen genommen. Politisch bewegte mich rund um das Jahr 1991 Feminismus, Minderheitenpolitik, aber auch politische Philosophie, besser ausgedrückt Philosophie der Politik. Aus diesen Perspektiven nahm ich das allgemeine gesellschaftspolitische Geschehen wahr: das Ende des Kalten Krieges, die so genannten Balkankriege, die mich richtig schockiert hatten, österreichinterne Geschehen wie auch das Weltgeschehen. Bewegt haben mich aber gleichzeitig die communityinternen Kämpfe, Streitereien, Inklusions- und Exklusionsprozesse – im feministischen Kontext und im Kontext von so genannten Minderheitsgruppen. In dieser Zeit lernte ich bei einer Podiumsdiskussion Hakan Gürses kennen. Wir standen an der Bar, während am Podium heftig diskutiert wurde. Wir stellten uns einander nicht vor. Hakan sagte zu mir: „Wir haben aber keine Schwierigkeiten miteinander, oder?“ Über Hakan Gürses lernte ich schließlich die Initiative Minderheiten kennen.  

Bei dir, Leah, war das sicher ganz anders, was hat dich rund um das Jahr 1991 politisch bewegt?

Lea Carola Czollek in Klagenfurt in den 1990er Jahren. Foto: privat

Czollek: 1991 war ich 37 Jahre alt. Ich hatte eine mehrjährige Ausreiseodysee aus der DDR hinter mir, die ihr Ende 1989 in Westberlin fand. Ich konnte die letzten Züge meines Studiums der Rechtswissenschaften nicht beenden und fand mich in einer Ausbildung zur Personalassistentin wieder, wo uns Auszubildenden gebetsmühlenartig erklärt wurde, wie dankbar wir sein können, dass wir unser „Lowlevel“-DDR-Abitur anerkannt bekamen. Die DDR war zusammengebrochen, den Staat, den ich verließ, gab es nicht mehr und alles, was ich an Kompetenzen zum Überleben in einer Gesellschaft und auf beruflicher Ebene erworben hatte, half mir im Westen nicht mehr. Das Einzige, was stabil blieb, war meine Überlebensfähigkeit in einer postnationalsozialistischen und zutiefst antisemitischen und homophoben Gesellschaft. Das war im Osten wie im Westen sehr ähnlich. Das heißt, 1991 war ich noch im Überlebenskampf und damit beschäftigt, mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Und ich würde sagen, es war bizarr. Wenn ich sage, dass mir meine beruflichen und kommunikativen Kompetenzen nicht mehr halfen, dann meine ich damit, dass meine private und politische Sprache, die Theorien, auf die ich mich bezog, Literatur, die mich geprägt hat, in Westberlin niemand verstand. Für mich waren diese Jahre des Schweigens. Was mich auch irritierte, war die Begegnung mit Feministinnen. Die meisten von ihnen waren akademisch ausgebildet. Während wir in der DDR mit einem staatlichen Antisemitismus konfrontiert waren, habe ich diese Konfrontation hier in den Küchen der Freundinnen erfahren, aber auch auf Tagungen. Die Erfahrungen dieser Zeit, die auf der einen Seite individuell und auf der anderen Seite strukturell bedingt waren, sind in dem Buch „Der feministische Sündenfall“ zusammengefasst. Und ich lese darin immer wieder und immer noch, wie in einem Lebensbuch von mir. Wichtige politische Meilensteine waren rund um 1991 und in den folgenden Jahren meine Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, mit Rassismus und Antisemitismus. In diese Zeit, 1992, fiel auch der rassistische Übergriff gegen die zentrale Aufnahmestelle der Asylbewerber*innen und ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen. Damals kannte ich die Initiative Minderheiten noch nicht. Österreich allerdings war mir emotional nah, weil im Freundeskreis meiner Eltern mehrere Remigrant*innen aus Österreich waren, Juden und Jüdinnen, Antifaschist*innen, Künstler*innen, und immer wieder Besucher*innen, fast alle Shoah-Überlebende oder Überlebende des Gulags. Diese Affinität brachte mich dann auch um die Jahrtausendwende nach Österreich und wurde zu einer amorösen, politischen und wissenschaftlichen, aber auch kritischen Verbindung, die bis heute hält.

Zu dieser Zeit haben wir uns auf einer Tagung in Graz kennengelernt. Aber das ist eine andere Geschichte. Wir bleiben strikt bei den Fragen: Wer hat dich politisch am meisten geprägt?

Perko: Das ist eine herausfordernde Frage. Jedenfalls haben mich kein_e Parteipolitiker*innen geprägt. Aber vorher noch zu dem, was du gesagt hast, Leah: „Der feministische Sündenfall“ war für mich auch ein sehr zentrales Buch, dass viele in Österreich kannten, aber kaum zitierten. Zum Prägen: Wenn ich den Begriff politisch anders als parteipolitisch fasse, also als agorale Politik, verbunden mit einem gemeinsamen Handeln und dazu im Hintergrund Handlungstheorien, dann haben mich am meisten Hannah Arendt und Cornelius Castoriadis geprägt.

Und wie ist es bei dir?

Czollek: Ich komme aus einem politischen Umfeld, und ich kann mir gar nichts anderes vorstellen als mich im politischen Umfeld zu bewegen. Geprägt haben mich dabei vor allem meine Eltern. Die familiäre Erfahrung der politischen 1920er Jahre, des Nationalsozialismus, des Faschismus und der Shoah sind dabei für mich lebensprägend.

Perko: Gibt es dabei eine Kontinuität in Bezug darauf, was dich heute beschäftigt?

Czollek: Wir haben mit 1991 begonnen. In der Folge gab es immer wieder einschneidende, erschütternde Ereignisse in der Welt. Ich denke da an die Balkankriege und daran, wie ihre Folgen bis heute spürbar sind. In Deutschland werden nach wie vor – auch unter pandemischen Bedingungen – Menschen aus dem ehemaligen Kosovo brutal ins Nichts abgeschoben. Seit den 1990er Jahren habe ich mich intensiv mit dem Schicksal – und hier eben auch dem politischen Schicksal – von Sinti und Roma beschäftigt, das mich nie wieder losgelassen hat. Als hätte es die Zäsur 1945 nicht gegeben, den Sieg über den deutschen Faschismus und damit die Beendigung des Genozides an den Sinti und Roma, werden ihnen bis heute basalste Menschenrechte vorenthalten. Das beginnt beim sicheren Aufenthaltsrecht als Bürger*innen der EU und führt über den Zugang zu Wasser, Strom und Wohnung bis hin zur Beteiligung an Bildung, Gesundheit und Mitbestimmung. Das beschäftigt mich.

Gibt es bei dir Kontinuitäten?

Perko: Heute, also ca. 30 Jahre später, beschäftige ich mich intensiv mit Mechanismen und Praxen von Diskriminierung und wir, Leah, haben ja auch das Institut Social Justice und Radical Diversity gegründet und ein diskriminierungskritisches Bildungskonzept entwickelt und werden nicht müde, Ausbildungen durchzuführen, Workshops, Schulungen und mischen uns immer wieder in den öffentlich-politischen Diskurs ein. Ich erzähle jetzt nicht weiter darüber, hierzu kann Vieles nachgelesen werden (Institut Social Justice und Radical Diversity). Vielleicht nur so viel: Was mich heute weiterhin sehr beschäftigt sind die Verunmöglichungen und die Möglichkeiten von Bündnissen, von gemeinsamem Handeln gegen strukturell verankerte Diskriminierung, gegen Gefahren wie Rechtsextremismus und Islamismus, die uns bedrohen, ungeachtet von welchen -ismen wir jeweils getroffen sind. Dieses gegen ist immer begleitet mit Fragen des Wofür. Das treibt uns beide um die plurale Demokratie im Hinblick auf eine konkrete Gesellschaftsutopie, also hinsichtlich dessen, was wir mit Radical Diversity benannt haben. Was mich heute auch immer noch beschäftigt ist diese Gleichgültigkeit, dieses egozentrische nicht Berührt-sein, wenn andere Menschen Gewalt, Ausbeutung, Exklusion u. v. a. erleben, wie du es gerade in Bezug auf Roma und Sinti erzählt hast.

Czollek: Wir haben noch weitere Fragen zu beantworten. Welche sind für uns die wichtigsten (minderheiten-)politischen Errungenschaften der vergangenen 30 Jahre?

Perko: Weil ich seit über 20 Jahren in Berlin lebe, bringe ich jetzt wahrscheinlich Österreich und Deutschland etwas durcheinander. Jedenfalls waren es trotz vieler Rückschläge, die wir heute erleben, LGBTIQ+-Errungenschaften wie die Abschaffung der Paragraphen, die rechtlich verankert, Lesben und Schwule diskriminierten, oder die gleichgeschlechtliche Ehe. Sicherlich auch das Gender Mainstreaming, trotz meiner Kritik daran, dass es weder eine Genderpluralität anspricht noch intersektionale Bezüge hin zu anderen Diskriminierungsformen im Blick hat. Das Gleichbehandlungsgesetz, das – auch hier trotz Auslassungen – als ein erster Schritt anzusehen ist. In Österreich ist auch die Anerkennung der Roma als Volksgruppe zentral, die 1993 erfolgte. Es gibt sicher noch weit mehr. Aber als wichtigste (minderheiten-)politischen Errungenschaften der vergangenen 30 Jahren sehe ich die vielen Projekte, Initiativen, Communitys und auch Einzelpersonen, wo die ältere Generation nicht müde geworden ist, gegen Diskriminierungen weiterzukämpfen und die jüngere Generation nicht nur mitkämpft, sondern immer wieder auch neue Formen ins öffentlich-politische Feld führt, in künstlerischen, aktivistischen, bildungsbezogenen, wissenschaftlichen etc. Bereichen.

Czollek: Darüber hinaus würde ich sagen, dass Themen wie LGBTQ+, Rassismus und Antisemitismus im öffentlichen Diskurs mehr wahrgenommen werden als vor 30 Jahren. Es ist zwar immer noch so, dass eher die Sprecher*innen über Diskriminierung skandalisiert werden und nicht die Tatsachen von Diskriminierung an sich, und auch nicht die Täter*innen, aber doch sind die postmigrantischen, queeren, jüdischen u. v. a. Stimmen nicht mehr zu überhören. Wir beanspruchen den gesellschaftspolitischen Raum mit: auf der Straße, in den Bildungseinrichtungen, in der Literatur, in der Wissenschaft, eigentlich auf allen gesellschaftlichen Ebenen. 

Perko: Die Initiative Minderheiten hat Geburstag. Sie feiert ihr 30jähriges Bestehen. Jetzt kommt also die wichtigste Frage in unserem Gespräch: Was charakterisiert für dich die Initiative Minderheiten?

Czollek: Ich habe von der amorösen, politischen und wissenschaftlichen, aber auch kritischen Verbindung zu Österreich erzählt. Die wichtigste und für mich bedeutendste amoröse Verbindung ist die „Stimme von und für Minderheiten“. Ich hatte vor Jahren für eine Zeitschrift in Deutschland einen Artikel zum Thema Antisemitismus geschrieben. Nach langem Hin und Her wurde mir gesagt, nur wenn ich mich in der Autor*innenbeschreibung als Jüdin positioniere, würde der Beitrag genommen. Gudrun, du hast die „Stimme“ ins Spiel gebracht und Hakan Gürses hat sofort zugesagt, den Artikel zu publizieren – ohne identitätspolitische Forderungen. Dem folgten bis heute noch mehrere Artikel. Jeder davon ist für mich aufregend im Hinblick darauf, dass ich meine Gedanken entwickeln kann als eine Perspektive, die anerkannt wird. Für mich, die ich aus einer Diktatur komme, ist ohne Zensur schreiben zu können, überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Du weißt ja, Gamze, immer wenn ein Thema mich bewegt, melde ich mich bei dir.

Und was charakterisiert für dich die Initiative Minderheiten?

Perko: Ja, Leah, was du sagst, charakterisiert auch für mich die Stimme. Und es erinnert mich an Hakan Gürses Frage an der Bar. Denn diese war für mich keine bloß individuelle, sondern dockte genau dort an, worum es geht, nämlich Bündnisse eingehen zu können mit jemandem, der nicht meine Erfahrungen teilt, und umgekehrt. Das bedeutet auch, und so nehme ich die Initiative Minderheiten wahr, unterschiedliche Perspektiven haben und diese veröffentlichen zu können, streiten zu können und dennoch politisch gemeinsam zu handeln. Und als wir, Leah, über Hakan Gamze Ongan kennengelernt hatten, blieb die „Stimme“ immer auch in diesem Sinne eine zentrale Zeitschrift. Was für mich die Initiative Minderheiten mit der „Stimme“ ferner charakterisiert, sind die vielen politisch relevanten Themen, die sie seit so vielen Jahren aufnimmt, oft auch als Avantgarde. Und immer wieder werden Themen intersektional aufgenommen.

Und was wir Euch zum Geburtstag mitgeben möchten:

Zuallererst:

Happy Birthday, İyi ki doğdun, s dnyom rozhdeniya, vse najboljše, mzl deyn geburtstog und 120 sollst Du werden!

Und dann:

Wir wünschen der Initiative Minderheiten einen langen Atem, Ausdauer und Durchhaltevermögen gegen den Wind, der uns von vorne trifft, Gelassenheit in einer ungelassenen Zeit, politische Kraft und viele Verbündete für die gegenwärtigen und kommenden Herausforderungen.


Leah Carola Czollek, Sozialpädagogin, Leiterin der Instituts Social Justice und Radical Diversity, und Gudrun Perko, Philosophin, Professorin für Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Potsdam und Mitbegründerin des Instituts Social Justice und Radical Diversity.

 

 

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