Autobiografische Notiz in Stimmungsbildern

Vor 40 Jahren, im März 1981, verließ ich Istanbul in Richtung Wien. Das war der Beginn meines halbfreiwilligen Exils.

Das Militär hatte sechs Monate zuvor geputscht und eine Schreckensherrschaft mit Massenverhaftungen, Folter und vollstreckter Todesstrafe errichtet. Ich wurde nicht unmittelbar verfolgt, in meinem Fall war es dennoch ratsam, das Land zu verlassen. Der Ausnahmezustand mitsamt den nächtlichen Ausgangssperren, die stets präsente Angst und die depressive Kollektivstimmung boten ohnehin keine angenehmen Lebensumstände. Also packte ich meine Siebensachen, stieg in den Bus ein und kam nach Wien, und einen Monat später wurde ich 20.

 Hakan Gürses 1997, © Mehmet Emir

Ursprünglich war es als vorübergehender Aufenthalt irgendwo im Ausland geplant (ich glaube, jedes Exil wird nur für eine kurze Zeit in Kauf genommen). Doch entwickelte sich mein Geburtsland in den 1980er Jahren nicht in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die vom Militär veranlasste neue Verfassung war repressiv und (wie man heute sagen würde) illiberal. Ich sah keine Möglichkeit, dorthin zurückzukehren.

Die 1990er Jahre wiederum empfanden viele Türk*innen als die Zeit des Um- und Aufbruchs: Die meisten meiner Bekannten hatten inzwischen eine Familie gegründet, eine Wohnung und ein Auto gekauft; die Wirtschaft war im Wachsen, die Kinder besuchten nebst Kindergarten und Privatschule nun auch Ballett- oder Klavierunterricht. In Kunst und Kultur passierte viel, und es gab nun unzählige Privatfernsehsender. Wenn ich mal wieder in der Türkei auf Besuch war, hörte ich so manchen Freund sagen: „Es geht bergauf!“

Kurdische Bürger*innen des Landes hatten aber keinen Grund zum Lachen. Eine enorme Intensivierung der Staatsgewalt, andauernde Unterdrückung und tägliche Entwürdigung erlebten die Kurd*innen in ihren Städten und Dörfern, die zwangsevakuiert oder zerstört wurden. In den sensationslüsternen Zeitungen wurden jene kurdischen Männer und Frauen als Terroristen bezeichnet, die aus Protest öffentlich Selbstmord begangen hatten. Ich hörte für fast ein Jahrzehnt auf, türkischsprachige Medien zu verfolgen. Ich schrieb und las kaum mehr Türkisch, fuhr nur mehr wie ein Tourist (der ich inzwischen sowieso schon geworden war) in die Türkei und traf nur einige wenige Freund*innen, die in einer Art innerem Exil lebten.

Doch waren die auslaufenden 1980er und die 1990er Jahre auch in Österreich kein Honiglecken. Die Politik orientierte sich zunehmend an Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, die Stimmung in der Bevölkerung war, gelinde gesagt, xenophob. Inzwischen war ich österreichischer Staatsbürger geworden (weswegen ich meine türkische Staatsangehörigkeit aufgeben musste). Die Türkei rückte ein Stück weiter weg. Doch wuchs auch in Österreich das Gefühl der Unsicherheit.

Anfang der 2000er Jahre kam Hoffnung auf. Die neue Regierung in der Türkei entmachtete die zivile und militärische Bürokratie mitsamt ihrer „Kemalismus“ genannten, etatistischen Ideologie zum ersten Mal in der Geschichte der Republik. Eine leichte Brise von Freiheit und Frieden schien die übelriechenden unterirdischen Gänge des tiefen Staates auszulüften. Ich dachte wie viele andere „Putschflüchtige“, dass die neue Regierung zwar eine islamistische Schlagseite haben mochte – als demokratisch gesinnte Gläubige stellten die Neuen aber eine Alternative dar im Vergleich zum faschistoiden, alten Establishment mit laizistischem Antlitz. (Doch würde ich bald einsehen müssen, dass dies eine Illusion war.)

Die 2000er hatten in Österreich mit einer Wende anderer Art begonnen: mit Schwarz-Blau. Viele Freund*innen schmiedeten Auswanderungspläne. Wohin sollte ich denn auswandern? Eine Rückkehr in die Türkei stand für mich sowieso schon lange nicht mehr auf der Tagesordnung. Ich hatte hier bereits viel zu starke persönliche Verbindungen aufgebaut.

Der Rest der Geschichte ist wohl allzu bekannt. Der „arabische Frühling“, die „Occupy“-Bewegung, die weltweiten Aufstände auf öffentlichen Plätzen waren wohl eine Folge der sogenannten Weltfinanzkrise. Sie alle ließen die Hoffnung auf internationale Solidarität und soziale Veränderungen aufkeimen. Denen folgte aber bald die autoritäre Antwort der Macht – von Bolotnaja-Platz in Moskau bis Gezi-Park in Istanbul zerfiel der Protest unter der eisernen Faust des Neo-Bonapartismus.

Dutzende Staaten in fast allen Erdteilen werden heute von „charismatischen“ Despoten mit formaldemokratischer Legitimation regiert. Gleichgeschaltete Medien, zerstörte Rechtsstaatlichkeit, ausgeschaltete Opposition, um sich greifender Autoritarismus – zudem naturgemäß ein minderheitenfeindliches Klima … Jüngst wurde sichtbar: Auch die Pandemie wird instrumentalisiert, um den Ausnahmezustand für immer auszurufen. Der Sumpf des von der Korruption begleiteten Autoritarismus wird, wiewohl noch in rudimentären Zügen, auch in Österreich wahrnehmbar.

40 Jahre nach dem Verlassen eines Landes, das ich inzwischen verloren habe, sitze ich nun hier in meinem geliebten Wahl-Zuhause und sehe in all dieser Finsternis einem anderen Lebensalter entgegen – voller Angst, ein weiteres Land zu verlieren. Und ich merke: Dem Exil konnte ich in all den Jahren niemals entrinnen.

 

Der Text wurde der aktuellen Ausgabe der STIMME entnommen.

 

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