Vorbemerkung: Ab jetzt werden wir die “Stimmlage”, Kolumne von Hakan Gürses in der Zeitschrift Stimme, nach ihrem Erscheinen in Printform hier als Online-Nachlese veröffentlichen.
Wolf Biermann, den man mögen mag oder auch nicht, hatte einst etwas sehr Schlagfertiges gesungen: „Sag, wann haben diese Leiden, diese Leiden, diese Leiden endlich mal ein Ende? Wenn die neuen Leiden kommen, haben sie ein Ende.“ Leider scheint das Leben hinterhältiger zu sein als im Lied. Denn seit einigen Jahren habe ich den Eindruck, kein tiefgreifendes Leid wird durch ein neues ersetzt, sondern sie summieren sich ganz einfach.
Die Pandemie, der Anschlag in Wien, Trump, die politisch-soziale Lage in meinem Geburtsland Türkei und in vielen anderen, neu-autoritär regierten Ländern, die Klimakrise – allesamt Quellen akuten Seelenschmerzes, welche ich hier nicht nach einer bestimmten Reihenfolge aufzähle – und wenn, dann geschieht das wohl unbewusst. Diese Stichworte verbindet jedenfalls die böse Eigenschaft, neben mir auch einem ziemlich großen Teil der Weltbevölkerung Kummer und Leiden zu bereiten. Ihre zufällige Gleichzeitigkeit darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie Einzelereignisse sind. Oder stehen sie doch in einem Kausalverhältnis zueinander? Ich glaube nicht ans Schicksal. Zumindest nicht an so ein schlimmes – obwohl, wir Menschen hätten es ja eigentlich schon verdient …
So zickzackhaft verlaufen meine widersprüchlichen Gedankengänge in diesen ersten Novembertagen. Während ich das hier eintippe, kündigt sich der „zweite harte Lockdown“ an. Die türkisgrüne Regierungsspitze (im Volksmunde auch die Virologischen Vier genannt) hat gestern Nachmittag ihre publikumswirksame Corona Horror Picture Show vor den Fernsehkameras abgezogen, ohne freilich vorher darauf zu vergessen, den Inhalt des geplanten Maßnahmenpakets wieder einmal an die nahestehenden Medien durchsickern zu lassen. Folgerichtig tobten in allen Begegnungszonen der Zweiten Republik gnadenlose Einkaufsschlachten, während der Ich-habe-es-schon-immer-gesagt-Kanzler mitsamt dem wie üblich konfus daherfaselnden Vize, dem Wer-einen-von-uns-angreift-Innenminister und dem Jetzt-reißt-euch-zusammen-Gesundheitsminister das Land erneut in drastischen Sprachbildern vor dem bösen Virus warnte. Zudem rieten diese vier gestandenen Mannsbilder uns Österreichern und Österreicherinnen (manchmal auch solchen, die in Österreich leben) zu pandemischer Monogamie. Dass kaum eine Woche zuvor, während des „Lockdown light“, die Eröffnung einer Möbelhausfiliale etwa 8.000 Menschen angelockt hatte, dafür aber die Theater und Konzertsäle in der Zeit geschlossen bleiben mussten, wird wohl nur die Geschichtsschreiber*innen in den 2030er Jahren beschäftigen.
Für mich steht mittlerweile fest, dass dieses türkisgrüne Kabinett zu den unfähigsten und unhaltbarsten Regierungen gehört, die ich in den 40 Jahren meines hierzulande verbrachten Lebens gesehen habe. Und ich habe zweimal Schwarzblau, einmal Türkisblau sowie Löschnak, Riess-Passer, Grasser, Hartinger-Klein und Klima erlebt! Fachlich und politisch unfähig zu sein, ist schlimm genug; doch politische Verantwortung durch antrainierte Wortwolkenaussonderung und heuchlerische (auch kabinettsinterne) Schuldverschiebung wie ein Virus von sich zu weisen, gehört meines Erachtens zu den schlimmsten Taten einer Minister*innen-Riege. Ein Beispiel: Gefühlte Minuten nach dem Anschlag in Wien spielte der türkise Innenminister den Ball der Verantwortung seiner grünen Kollegin im Justizministerium zu – man habe den Täter viel zu früh entlassen, somit sei die Tat erst möglich geworden. Zweifach falsch! Erstens wurde es dadurch überhaupt möglich, dass der Täter mit Maßnahmen zu Deradikalisierung konfrontiert werden konnte. Dass diese bekanntermaßen nicht viel gebracht haben, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Zweitens wäre der Mörder spätestens im vergangenen Juli sowieso regulär entlassen worden.
Schon am nächsten Tag nach dem „subtilen“ Bashing der Justizministerin vonseiten des Innenministers kam heraus, dass die „Pannen“ vielmehr in dessen eigenem Ressort passiert sind. Des Innenministeriums Antwort darauf war der Abwurf einer Nebelgranate nach der anderen: Razzien und Verhaftungen im „dschihadistischen Milieu“ (zählen die Mitglieder bzw. Fans der Muslimbruderschaft nun wirklich dazu?); eine Großrazzia im rechtsextremen Gefilde, wobei seither nichts über die Resultate zu vernehmen war; Schließung zweier Moscheen (eigentlich beide schon vor langer Zeit zur Schließung ausgeschrieben und eine davon derzeit wegen Corona sowieso nicht im Betrieb) sowie Verkündung der Verschärfung des Terrorgesetzes unter Hinzunahme einer neuen Straftat namens „politischer Islam“. (Unkommentiert lassen, aber erwähnen möchte ich übrigens eine Tatsache in dieser besonderen Zeitschrift: Nicht nur der Täter wuchs in einer Familie von Eingewanderten auf, auch seine Opfer waren allesamt Minderheitenangehörige: eine lesbische Frau und drei Migrant*innen.)
Nun, wenn ich das alles schreibe, fällt mir doch eine Parallele zu Trump (und Erdoğan und Orbán und Putin und Bolsonaro und …) auf. Auch zum weltweiten Umgang mit der Klimakrise. Wiewohl noch immer Einzelereignisse, haben diese Quellen meiner herbstlichen Seelenleiden also doch einige Gemeinsamkeiten. Jedenfalls zwei, wie mir nun scheint.
Die erste Gemeinsamkeit lautet – und ich schreibe seit so vielen Jahren darüber, dass ich dieses Wort nicht mehr gedruckt sehen will – Nationalismus. Hinter all diesen Ereignissen, vom Umgang mit der Pandemie über die ideologische (Selbst-)Legitimation autoritärer Regierungen bis hin zum angeblich wienerisch-gemütlichen „Schleich di, du Oaschloch“-Slogan dieser Tage als Terrorabwehr und zur offiziellen Handhabung der globalen Gefahr durch die Klimakrise, sehe ich stets die hässliche Fratze des immerwährenden Nationalismus frech grinsen.
Die zweite Gemeinsamkeit wiederum liegt darin, dass diese aufgezählten Einzelereignisse sich wohl deswegen summieren können, weil wir schon seit einiger Zeit einen globalen Rechtsruck erleben, der so wirksam ist, dass er sogar gewohnte „linksliberale Positionen“ infiltrieren konnte. Darum zählen nur mehr der nationale Schulterschluss, die ständigen Wir-sie-Vergleiche oder der auferstandene „Whataboutism“.
Ich fürchte, dieser Rechtsruck ist so nachhaltig, dass er die gesamte Welt für die nächsten Jahrzehnte politisch beeinflussen wird.