Die pandemische Verwerfung

Im März 2020, zu Beginn der Covid-19-Pandemie, schrieb ein italienischer Philosoph im Rahmen einer Online-Debatte folgenden Satz: Je mehr die anderen Distanz zu mir halten, desto näher fühle ich mich ihnen.[1] Eine neue Form der Nächstenliebe. Solidarität in Zeiten der Pandemie.

Der Satz sollte wohl die „soziale Distanz“, die als imperative Parole just in jenen Tagen in Mode kam, ethisch begründen und zugleich dazu aufrufen. Nun, nach fast zwei Jahren gehorsamen Haltens des physischen Abstandes zueinander, sind wir an einer zwischenmenschlichen Furche angelangt, die keine Armee von Babyelefanten mehr auffüllen könnte. Dennoch ist – im Gegensatz zum Ausspruch des Philosophen – weit und breit keine Spur von Nähe zu entdecken. Die Lage lässt sich im wahrsten Sinne des Wortes als soziale Distanz umschreiben. Diese hat freilich politische Auswirkungen. Von einer Polarisierung oder Spaltung der Gesellschaft ist allenthalben die Rede.

Polarisierung ist aus demokratiepolitischer Sicht eigentlich gar kein schlechtes Anzeichen. Sie deutet auf eine lebhafte Austragung der Interessengegensätze, somit auf eine politische Belebung hin, die viele Politiktheoretiker*innen der Demokratie nachgerade verordnen. Der Verweis auf die Spaltung einer Gesellschaft, die strukturell immer schon gespalten ist, kann wiederum als Sichtbarwerden der wirklichen Eigentums- oder Machtverhältnisse positiv (um)gedeutet werden.

Was wir derzeit erleben, ist indes der langsame, aber sichere Zusammenbruch des Rahmens selbst, innerhalb dessen politische Widersprüche und soziale Gegensätze ausgehandelt werden. Die liberale und deliberative Demokratie gilt ja landläufig als dieser Rahmen, in dem ein friedliches Austragen der Konflikte möglich sein soll. Der soziale Zusammenhalt, der Gemeinsinn, die Regeln für kollektive Entscheidungsfindung, ja für öffentliche Debattenführung scheinen aber derzeit rasant zu zerbröckeln – und zwar durch die Erschütterungen, die eine Kraftlinie erzeugt.

Wir haben es mit einer völlig neuen, einer bio-politischen Linie zu tun, die das politische Spektrum ebenso durchkreuzt wie Klassen, Schichten und soziale Milieus. Darum und weil sie auf dem Hintergrund der Pandemie ihre Furche zieht, nenne ich diese Linie pandemische Verwerfung. Sie ist auch deswegen „pandemisch“, da sie sich wie eine Pandemie verbreitet: eine Verwerfung, die „viral geht“.

Im Epizentrum stehen dabei nicht Interessenkonflikte oder politische Positionierungen. Die Verwerfung zerteilt die gesamte Gesellschaft entlang einer Gretchenfrage: Wie hältst du es mit Corona? In deren Beantwortung findet sich Herbert Kickl mit Sahra Wagenknecht auf einer Seite, während Liberale, radikale Linke und konservative Law-and-Order-Befürworter*innen zusammen deren Gegenfront bilden. FPÖ und AfD proklamieren Freiheitsrechte, während sich viele Linke für ein starkes Durchgreifen der Staatsmacht (etwa durch Impfpflicht) aussprechen.

Das Problem dabei ist nicht nur die Unberechenbarkeit der politischen Frontenbildung – diese haben wir in den letzten Jahren zu Einzelfragen wie Flucht oder Klimawandel immer wieder erlebt. Was an der pandemischen Verwerfung meines Erachtens die größte Gefahr darstellt, ist die Ausblendung von sozialen Gegensätzen und von politischem Widerstreit, der auf diese Gegensätze zurückgeht. Das Gefälle zwischen Arm und Reich, die Kluft zwischen Herrschenden und Subalternen, die Schere zwischen Nord und Süd, Ungleichheit in Gender-Verhältnissen – all diese sozialen Gegensätze, die oft ineinandergreifen und entlang derer sich politische Fronten seit Jahrzehnten, wenn nicht schon Jahrhunderten, bilden, wurden binnen eineinhalb Jahren von einem Virus überlagert. Nun heißen wir nicht mehr Oberschicht oder Prekariat, Mehrheits- oder Minderheitsangehörige*r, Unterdrücker*in oder Unterdrückte, sondern Impfgegner*in / Schwurbler*in / Querdenker*in oder Geimpfte.

Die Gefahr der Ausblendung struktureller, systembedingter, tiefer reichender Gegensätze durch die pandemische Verwerfung geht mit einer weiteren Gefahr einher: Es droht eine Verschiebung der demokratiepolitischen Binnengrenzen. Vertragstheoretisch gesprochen, wird gegenwärtig nicht nur die individuelle Macht an den Staat übertragen, sondern auch der Schutz gegen die (Staats-)Macht. Mit jedem „großzügigen“ Verzicht auf Rechte, zumal auf die Freiheitsrechte, wird ein Zustand geschaffen, der die Grenzen zwischen dem Individuum und dem Gemeinwesen, der Bürger*in und dem Staat, dem Souverän und der Exekutive verschiebt – vielleicht nicht irreversibel, aber doch schwer wieder verrückbar. Wachsende Bereitschaft zum Gehorsam führt zur Erduldung und schließlich sogar Befürwortung autoritärer Strukturen, wie wir nicht zuletzt durch die Experimente Stanley Milgrams wissen.

Jene auf der „anderen“ Seite wiederum, die sich sträflich salopp und dumm mit Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus vergleichen, heben eine weitere Schranke auf. Wiewohl viele von ihnen selbst schon immer zum Ausschluss Anderer aufgrund der Staatsbürgerschaft, zur „Abwehr“ der Geflüchteten, zur Diskriminierung und Unterdrückung von Minderheiten geschwiegen haben, verlangen sie von ihren Mitmenschen, diese mögen sie nicht ausschließen, sondern mit ihnen, den angeblichen Opfern der medizinisch-staatlichen Angriffe auf die Körper, solidarisch sein. Der Antisemitismus gedeiht in solchem Biotop ebenso wieder wie gegenaufklärerisch-reaktionäres Gedankengut.

Die pandemische Verwerfung ist eine Gefahr.

 

[1] Sergio Benvenuto: Forget about Agamben, 20. 3. 2020.


Die Kolumne “Stimmlage” wurde der aktuellen Ausgabe der STIMME (Nr. 121/2022) entnommen.

Hakan Gürses ist Wissenschaftlicher Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung (ÖGPB). Von 1993 bis 2008 war er Chefredakteur der Zeitschrift Stimme von und für Minderheiten, von 1997 bis 2011 Lektor und Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien. Seine Kolumne “Stimmlage” erscheint regelmäßig in der STIMME.

 

 

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