Verbunden mit der Initiative Minderheiten: Petra Flieger, Mitkämpferin der SBL-Bewegung

Aktuell in unserer Jubiläumsserie “Verbunden mit der Initiative Minderheiten”: Petra Flieger, eine der wichtigsten Mitkämpfer*innen und Verbündeten der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, die wir seit langem auch als STIMME-Autorin schätzen.

Foto: 1990, privat

Was hat Dich rund um das Jahr 1991 politisch bewegt?

Im Jahr 1991 habe ich noch Psychologie an der Uni Wien studiert. Mein Nebenjob damals war ein wöchentlicher Besuchsdienst bei sechs Männern und einer Frau im sogenannten Kinderhaus in Gugging, das Teil des NÖ Landeskrankenhauses für Psychiatrie war. Dort bin jede Woche einmal hingefahren und habe mit jeder Person einen kleinen Spaziergang am Psychiatriegelände gemacht.

Noch heute bin ich fassungslos, wenn ich mich an die Bedingungen erinnere, unter denen die behinderten Frauen und Männer im Kinderhaus gelebt haben: Sie waren nach Geschlechtern getrennt eingesperrt in Gruppen zu 12 oder 15 Personen. Jede Gruppe hatte einen Aufenthaltsraum für untertags und einen Schlafsaal für nachts. Die beiden Räume waren mit einem Gang verbunden, der auch als Garderobe für das Gewand der Bewohner*nnen diente. Im Schlafsaal standen 12 bis 15 Gitter- und Netzbetten, im Aufenthaltsraum gab es Tische und Stühle, eventuell oben in einer Ecke einen Fernseher und eine Kiste mit Spielzeug. Es gab einen Waschraum und einen Raum mit mehreren abgeteilten, aber nicht absperrbaren Toiletten. Die Fenster waren vergittert, die Eingangstür zur Gruppe ebenso wir das ganze Haus immer verschlossen. Schlüssel hatte nur das Personal. Die behinderten Menschen waren völlig von der Umwelt isoliert, viele von ihnen seit Jahrzehnten, weil sie seit ihrer Kindheit im Kinderhaus lebten.

Mich hat es damals zutiefst empört und wütend gemacht, dass mit behinderten Menschen in Österreich so umgegangen wurde. Dass erwachsene Menschen nur breiartige Nahrung in Blechschüsseln erhalten, dass sie aus der Toilette Wasser trinken müssen, weil es für sie nicht einmal eine Trinkgelegenheit gibt, das war so entwürdigend. Diese Beobachtungen und Eindrücke bei meinen wöchentlichen Besuchen haben mein Engagement für die Integration und Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen geweckt und geprägt.

Wer hat Dich politisch am meisten geprägt?

Wie oben beschrieben: Die Empörung über die Lebensbedingungen, denen behinderte Menschen Anfang der 1990er Jahre im Kinderhaus in Gugging ausgeliefert waren, haben mein politisches Engagement für nicht-aussondernde und nicht-diskriminierende Lebensbedingungen für Kinder und erwachsene Menschen mit Behinderungen nachhaltig geprägt. Ab 1993 unterrichtete ich dann einige Jahre als Lehrerin in einer Integrationsklasse für Kinder mit und ohne Behinderungen. Damals bin zuerst zur aktiven österreichweiten (schulischen) Integrationsbewegung gestoßen und habe auch schnell erste Kontakte zur Selbstbestimmt Leben Bewegung geknüpft, der ich mich bis heute solidarisch sehr verbunden fühle.

Welche sind für Dich die wichtigsten (minderheiten-)politischen Errungenschaften der vergangenen 30 Jahre?

Die von der Selbstbestimmt Leben Bewegung behinderter Menschen erkämpfte Antidiskriminierungsklausel in Artikel 7 der Österreichischen Bundesverfassung im Jahr 1997. Dort heißt es seit damals: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. In Alltag und Realität sind wir davon in Österreich noch sehr, sehr weit entfernt, aber die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2008 gibt uns starke Rückendeckung und hat hierzulande immerhin ein wenig Bewegung in den politischen Diskurs gebracht.

Was beschäftigt Dich heute?

Im Grunde genommen dieselben Themen wie vor 30 Jahren: Rahmenbedingungen schaffen für die umfassende Integration, Gleichstellung und Deinstitutionalisierung von Kindern und erwachsenen Menschen, die mit Behinderungen leben. Von der Vision einer inklusiven Gesellschaft sind wir noch sehr weit entfernt.

Was charakterisiert für Dich die Initiative Minderheiten und was möchtest du uns zum Geburtstag mitgeben?

Die Initiative Minderheiten war und ist immer sehr offen für Themen, die ich einbringe. Das geschieht vor allem in Beiträgen, die ich für die Stimme schreiben kann. In der Stimme zu schreiben ist für mich immer eine Chance, Themen, die sonst nur in einer kleinen Szene diskutiert werden, auch in andere Szenen hineinzubringen und so nicht nur zu sensibilisieren, sondern idealerweise auch politische Solidarität zu bewirken. Zum Geburtstag wünsche ich der Initiative Minderheiten nochmals 30 Jahre!


Mag.a Petra Flieger hat ein Lehramt für Sonderschulen und ein Diplomstudium in Psychologie abgeschlossen. Als freie Sozialwissenschafterin beschäftigt sie sich national und international aus verschiedenen Perspektiven mit der gesellschaftlichen Gleichstellung und Integration von Menschen mit Behinderungen. Gemeinsam mit Volker Schönwiese und Angela Wegscheider hat sie im Jahr 2020 die Schwerpunktausgabe der Stimme der Minderheiten zur Geschichte der Behindertenbewegung redaktionell gestaltet.

 

 

 

 

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